Als mein 30. Geburtstag anstand, reiste meine Familie aus Deutschland an. Wie aber sollte ich feiern? Am meisten Sorgen bereitete mir die Gästeliste, ein selektierender, öffentlich zu sehender Vorgang, der mir schon als Kind Unwohlsein bereitet hatte. Wollte ich wirklich alle unterschiedlichen Welten, in denen ich lebte, zusammenführen? Mit nur wenigen Ausnahmen entschied ich mich dafür und feierte groß und festlich. Später lernte ich, dass die Einstellung, Bereiche des Lebens in verschiedenen Schubladen unterzubringen, die voneinander im Regelfall nichts erfuhren, meinem Typ entsprach.
Kurz nach meinem Geburtstag flogen meine Familie und meine Mitbewohnerin wieder nach Deutschland, auch meine engsten Freunde kehrten nun dorthin zurück. Ohnehin sollte zu diesem Zeitpunkt ein großer Exodus meinen lokalen Freundeskreis dezimieren, womit meine zuvor wichtigsten Stützen unwiderruflich wegbrachen.
Meine Krankheit, so spürte ich, war keine normale, sondern wie sich später herausstellte, der evolutionäre Moment meiner Selbsterkenntnis; eine Art von Berufung, mich bewusst mit dem eigenen Seelenzentrum auseinanderzusetzen. Die Nähe zum Tod, gleichsam das Bewusstsein des Todes, war das einzige Medikament, die einzige Heilmethode, um das Bewusstsein des Lebens zu reanimieren, und die Wochen der wortwörtlichen Rekreation wären vergeblich gewesen, hätte nicht das Leben bereits die nächste Szene des Theaterstücks, dessen Hauptakteur ich selbst bin, vorab geplant. In der empfundenen weiten Leere, diesem kraftlosen Nichts, stellte mich das Leben vor die nächste und wohl größte Prüfung. Kaum hatte ich ein Fenster meines Elfenbeinturms geöffnet, wehte draußen kein Frühlingslüftchen, sondern stürmte ein Orkan und das einmal geöffnete Fenster ließ sich nicht mehr schließen. Nicht als Bach wollte das Wasser ins Meer einlaufen, sondern als weites, mächtiges Delta. Ich wurde Teil der Empirie für die „Doktorarbeit Leben – Dr. rer. vit.”, also eines Themas, das sich zuvor nie aufgedrängt hatte. Mein Leben war im Begriff, erneut zu zerreißen. Doch nicht mehr körperlich, wie wenige Wochen zuvor, sondern geistig: Meine innere Parallelwelt kollidierte unausweichlich mit der Realität. Auslöser war eine SMS von Tao, den ich wenige Monate zuvor kennengelernt hatte. So direkt hatte ich diese Frage niemals zuvor gehört: Ob ich mir vorstellen könne, ihn zu „daten“.
Was sollte ich antworten? Die SMS stand im diametralen Gegensatz zu allem, wie ich mir mein Leben vorstellte. Was ich bislang im Sinn hatte, war, die Traumfrau fürs Leben zu treffen, und bitte gleich im ersten Anlauf. Ein Date mit einem Mann? Vielleicht sogar eine Beziehung aufbauen? Nie hatte ich einen Gedanken an einen Prozess verschwendet! Wie funktioniert das überhaupt mit der Anbahnung? Ganz zu schweigen von Verlauf und Trennung. Ein Kollege empfahl mir einst, erst mindestens sieben oder acht Freundinnen zu „probieren“, um zu wissen, was ich wolle und welche die richtige sei. Und eine Freundin erzählte, sie habe bei manchen ihrer Beziehungen schon von Anfang an gewusst, dass sie nicht von langer Dauer sein würden. Was sollte ich tun? Meine Antwort lautete Nein. Ich erwiderte Tao, dass dies vollends jenseits des Vorstellbaren sei.
Es blieb indes die Frage, ob eine positive Antwort meinem Alleinsein vielleicht ein Ende setzen könnte. Außerdem verlangte mein Verstand nach Definitionen und Fakten. Was genau meinte er? Wie lange war er noch vor Ort? Auch: Hatte er ein vergleichbares Gehalt? Doch vor allem beschäftigte mich eines: Wie sollte ich sein beharrliches „Warum nicht?” beantworten? Ihm und nicht zuletzt mir selbst gegenüber.
Während eines Wochenendausflugs mit Freunden war ich mit dem Enneagramm in Berührung gekommen. Hier hoffte ich nun Antworten zu finden und analysierte mit Feuer und Flamme meinen und daneben auch gleich Taos Typ, das Atmosphärische wurde somit einer vom Verstand kontrollierten Analyse unterzogen. Mich selbst betreffend, kam ich zu dem Urteil, dass ich bislang am ehesten einer Sieben, einem „lustigen Entertainer und Optimisten“, glich und vor allem wohl auch so wahrgenommen wurde. Doch emotional spürte ich, war ich eigentlich eine Fünf, der „Beobachter und Denker“. Hier tauchte ein weiteres Stück des Puzzles auf: Mir wurde bewusst, dass ich einen vollends entgegengesetzten Typus gelebt hatte! Und das hatte mich körperlich ruiniert, weil es meiner Schöpfung widersprach. Ich hatte doch tatsächlich probiert, einen anderen Grund zu legen als den, der gelegt ist – und damit auf Sand gebaut. Für Fünfen, so hieß es, von Gefühlen getrennt und nach persönlichen Beziehungen hungernd, sei es nicht unnormal, viel Zeit und Mühe damit zu verbringen, ein intellektuelles Band zurück zum eigenen Menschsein zu finden. Weil sie ihren Verstand in den Mittelpunkt ihres Daseins gerückt hätten, versuchten sie, diese Verbindung durch Modelle, Systeme, die allgemeingültige, universelle Prinzipien der Interaktion und insbesondere des menschlichen Verhaltens erklären, herzustellen. Für Fünfen sei es charakteristisch, dass sie sich zuerst mit dem Kopf und dann mit dem Gefühl verpflichteten (Palmer).
Tao hingegen war meiner Recherche nach tatsächlich eine Sieben und verkörperte somit das Ideal, den Mustermenschen, dem ich noch immer hinterher hing: Ich beneidete ihn um sein Wesen, wie tief er in sich ruhte, zufrieden und rundum ausgeglichen. Sehnsucht danach, ebenfalls über ein solches Gemüt zu verfügen, kam in mir auf – ein Ziel in unendlich weiter Ferne.
Siebenen und Fünfen ergänzen sich und sind reziprok. Was der eine nicht hat, bringt der andere mit. Während die Fünf auf der positiven Seite Tiefe, Beobachtungsschärfe, objektive Urteilskraft, Unabhängigkeit, Autarkie und oftmals einen skurrilen Humor mitbringt, sind es bei der Sieben Flinkheit und Spontanität, von einen auf den anderen Moment etwas zu beginnen, sei es eine Theaterkarte zu buchen oder die Möbel in der Wohnung zu verrücken. Siebenen sind unabhängig, obwohl sie gerne Menschen um sich haben, mit denen sie Spaß und ein stetiges Streben nach Freude teilen. Sie sind großzügig, extravagant, optimistisch, gesellig, aus sich herausgehend auch gegenüber Fremden, oftmals der Angelpunkt von Feiern. Fünfen sind dagegen privat und ruhig im Umgang mit Fremden, obwohl sie auch sehr lustig sein können, wenn sie sich sicher fühlen und die andere Person besser kennen. Fünfen geben Siebenen Tiefe, Seriosität, während sie umgekehrt lernen, Neues auszuprobieren und mehr soziale Kontakte zu knüpfen. Kurz ausgedrückt, liegt hier eine gegensätzliche, aber sich ausgleichende Konstellation mit abweichenden Vorstellungen über das Leben vor, auch bezüglich der Frage, wie man sich am besten selbst realisieren kann. Fünfen sagen: „Das Leben ist kurz, erwarte nicht zu viel“, Siebenen: „Das Leben ist kurz, versuche alles“.
Bald formulierte Tao die Hoffnung, dass ich ihn eines Tages voll Vertrauen und Offenheit so lieben könnte wie er mich, dass mein Entkommen aus dem Alleinsein nicht der einzige Grund unseres Zusammenseins bliebe und ich mich nicht erneut verschließen würde. Was erwartete er? Woher sollten denn auf einmal solche Gefühle kommen? Mein Leben hatte bis dato aus Büchern bestanden, und meine Emotionen waren nicht mehr als ein zu studierendes Phänomen in diesem Forscher- und Beobachterdasein. Unter anderem hatte ich ein Lexikon gestartet, in dem ich alle Gedanken mit Datum unter bestimmten Stichwörtern sortierte. So konnte ich bei Bedarf nachschlagen, wozu ich mir welche Gedanken gemacht hatte und wie sich diese eventuell wandelten. Mir war dabei bewusst, dass Emotionen zwangsweise kalt und geerdet erscheinen mussten. War ich in diesen Belangen wirklich unfähig? Teilte ich nicht eher mit Balzac die Furcht vor dem eigenen Ungestüm, mit Tolstoi vor dem Übermaß der eigenen Blutüberfüllung? Als Tao kurze Zeit später für drei Wochen ins Ausland flog, fühlte ich mich allein und wünschte, er wäre da.
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