Ehe ich mich versehen konnte, war er bei mir eingezogen, und damit beendete ich nicht nur mein Alleinsein, sondern ließ mich von der Realität überrennen. Zwar zog ich alle Register eines Menschen mit Beziehungsangst, provozierte und testete, wie weit ich gehen konnte, doch mein auf Distanz ausgelegtes Weltbild zerbrach: Ohne Grenze fiel das zuvor Gegenüberstehende in mich hinein und fusionierte mit mir. Die Diskrepanz ging verloren, und mein Gehirn war nicht mehr in der Lage, Informationen stimmig zu verarbeiten: Wieder einmal von einem Extrem ins andere. Ließen sich Extreme auf der einen Seite nur durch Extreme auf der anderen kompensieren?
Mein Inneres war zugleich zerrissen und wie eine stark befestigte Burg mit vielen Mauern umgeben. Versuchte jemand einzudringen, dann ergänzte ich den Wall und fühlte mich in meiner Stärke bestätigt. Doch was beschützte diese Burg? Innere Leere? Und aus den Luken schoss ich mit Kanonen auf Spatzen und sah den Balken im eigenen Auge nicht, dass meine Mauern mein emotionales Wachstum erschwerten oder verhinderten. So kritisierte ich Tao für Begebenheiten seiner Welt, mit der er im Einklang war und die ich selbst nicht nachempfinden konnte. Zeigte sich in dieser Kritik nicht vielmehr meine eigene Unvollkommenheit? Nach all dem, was ich ihm in jenen Wochen vor die Stirn schleuderte, war es ein Wunder, dass er mich nicht fallen ließ. Ein weiteres Indiz, dass gerade er und nicht ein anderer Mensch zu diesem Zeitpunkt in meinem Leben auftauchen sollte. Ein rebellischer Verstand versuchte sich im Dolchstoß und setzte alles daran, wieder allein zu sein und den Fokus von Herz und Seele abzulenken – wohl aus Angst, dass ich aufdeckte, was der wahre Grund meines und seines Verhaltens war: fehlende Selbstliebe. Hier lag der zentrale Machtkampf mit mir selbst. Verlor ich ihn, hätte der Verstand weiterhin die Oberhand, lernte ich Gefühle, würde ich ein vollständig neuer, glücklicher Mensch, mein Körper würde gesunden, und die alte Herrschaft wäre Geschichte.
Die Kriegserklärung meinem Verstand gegenüber war ausgesprochen, und ab diesem Zeitpunkt stand für mich fest, dass ich soweit wie möglich das Gegenteil von dem tun musste, was er sich wünschte, ich musste ihn dehnen und foltern, bis er in seinem persönlichen Waterloo kapitulieren würde. Wie ein Hase würde er durch die Buxtehuder Heide rennen, vom Igel verschmitzt mit „Ick bün al dor!“ begrüßt, und schließlich bei der 74. Revanche erschöpft zusammenbrechen. Ein für allemal hieß es, den königlichen Höhenflug des Spatzen im Adlerkostüm zu beenden. Ich musste mit der Zerstörung dessen, was ich früher für meine Persönlichkeit hielt, fortschreiten. Ohnehin war das, womit ich mich früher fraglos identifiziert hatte, schon tot. Doch unterschätzte ich naiv die Stabilität meiner alten Sinnstrukturen. Dabei spürte ich, dass mein Geist keinem Kleingewehrfeuer erliegen würde, sondern dass hier schwerere Geschütze aufgefahren werden mussten, um den Granitbunker zu sprengen.
Meine strikte Ablehnung damals auf Taos Frage per SMS lag vor allem in mangelnder Selbstliebe und geringem Selbstwertgefühl begründet, das typisch ist für narzisstisch Verwundete, die sich in der Tiefe nicht annehmen können und Schwierigkeiten haben, sich mit sich selber identisch zu fühlen und der eigenen Identität habhaft zu werden. Dies Phänomen war das erste, wonach ich im Internet suchte – meine Intuition hatte mich zum Kern geführt: Wie sollte ich Liebe geben, wenn ich sie für mich selbst nicht spürte? Und wie sollte ich Liebe annehmen für eine Existenz, die ich nicht als liebenswert erachtete?
Was für ein seltsamer Mensch, so dachte ich, war Tao, der mir so viel Liebe schenkte, nicht mehr von meiner Seite wich, im Urlaub Postkarten schickte und mir riet, weder mich noch die Welt zu hassen! Ich müsse mich lieben und akzeptieren, so wie ich sei. Was gäbe ich dafür! Während in der Bibel die Rede davon ist, seinen Nächsten wie sich selbst zu lieben, wirft ein Blick auf die Gesellschaft und das niedrige Niveau an Nächstenliebe die Frage auf, wer sich denn selbst liebt. Das scheinen ja die wenigsten zu sein! Aber wie kann man dann anderen Liebe geben? Das Bibelgebot, diese Gleichung, klingt so leicht, aber sie geht sehr schwer auf. Leider war ich einer von denen, die dies beweisen. Nie hatte ich so sein wollen, wie ich bin, und habe stets etwas Neues zum Ablehnen gesucht. „Mein Herr“, schreibt Goethe in Wilhelm Meister, „wie selten ist der Mensch mit dem Zustande zufrieden, in dem er sich befindet! Er wünscht sich immer den seines Nächsten, aus welchem sich dieser gleichfalls heraussehnt.“ Glück ist aber genau das Gegenteil, und um dorthin zu gelangen, bedurfte es einer Korrektur, wie folgende Sätze aus dem Film Phoebe im Wunderland darlegen: „Zu einem bestimmten Zeitpunkt in deinem Leben, wahrscheinlich, wenn zu viele Jahre schon dahin gezogen sind, wirst du deine Augen öffnen und sehen, wer du wirklich bist. Insbesondere in Bezug auf alles, was dich von den furchtbar Normalen unterschieden hat. Und dann wirst du zu dir sagen: Aber diese Person bin ich. Und in dieser Stellungnahme, dieser Korrektur, wird eine Art von Liebe mitschwingen.“
Ein Mensch, der für sich keine Emotionen empfindet, ist zu allem fähig und schreckt auch nicht davor zurück, sich Schmerzen zuzufügen. Ist das Innen tot, dann ist der Körper nur die äußere wertlose Hülle. Der gehinderte Lebensfluss in mir staute sich nicht nur an, sondern drängte wie ein Bumerang mit Gewalt zurück und nahm die Richtung der Selbstzerstörung. Schon in jungen Jahren hatte ich keine gesunde Einstellung zu meinem Körper, und besonders die Veränderungen während der Pubertät brachten keine Genesung. Wackelten Zähne, so zog ich sie über dem Waschbecken mit der Eisenzange raus, wobei ich ärgerlich wurde, wenn ich ausrutschte und meine Zunge oder die Wangenhaut schmerzte oder blutete. Ich hatte ein so distanziertes Verhältnis zu meinem Körper, dass ich in einer ärztlichen Konsultation um operative Eingriffe bat. Doch dazu kam es nicht, war ich für den Mediziner schließlich äußerlich vollends gesund.
Mein niedriges Selbstwertgefühl drückte sich auch und vor allem in Essstörungen aus. Allein nach meiner ersten „Bestandsaufnahme“ in Bhutan hatte ich innerhalb von vier Monaten fast 15 Kilogramm durch willensstarkes Ignorieren des Hungergefühls und Nahrungsrestriktion abgenommen. Meine Hosen musste ich vier Nummern kleiner kaufen, diese Größe trug ich zuletzt, als ich 15 war. Regelmäßig, wenn ich mit mir unzufrieden war, stellte ich die Nahrungszufuhr ein, wobei sich bei längerer Dauer Probleme der Verträglichkeit häuften. Am Ende reagierte mein Magen auf fast alles empfindlich. Oder wenn ich voller Antrieb mit einer Aufgabe beschäftigt war, wie in der Endphase des Schreibens meiner Dissertation, dann ernährte ich mich buchstäblich von Literatur: Buchstabensuppe, geistreich, doch kalorienarm. Der Kühlschrank war leer, der Magen schmerzte, und nur der beherzte „Lieferservice“ einer Freundin brachte Abhilfe.
In einer späteren Phase war es erneut Hesse, der mich aus geistigem Alleinsein befreite. Auch er habe sich selbst Gewalt angetan, und im Siddhartha spricht er von einem sich in die Geistigkeit verkrochenen Ich, das dort saß und wuchs, während er es mit Fasten und Buße zu töten meinte. Schaffer-Suchomel schreibt in Spuren unseres Menschseins in der Sprache, Magersüchtige seien „Mögen-Süchtige“. Der Magersüchtige wolle, dass man ihn liebt. Ein wesentliches Merkmal von Liebe sei Wachsen, Vermehren, also das Zunehmen, wobei die Magersucht die Umkehrung hiervon sei. Essen, so ergänzt Preiter, lege die Bedürftigkeit gegenüber dem Außen bloß. Ein weiterer Grund, es zu meiden. Es zeigt sich sehr deutlich, dass der Kopf hier den Leib töten wollte. Doch der Leib ist am Leben geblieben, indem er wie ein „Kaltblüter seine Temperatur gesenkt und seinen Lebensrhythmus reduziert hat“ (Schellenbaum).
Читать дальше