„Und Ihre Beziehung zu Born?“, fragte Rommer. „War sie rein geschäftlicher Natur?“
„Ist … nicht war “, berichtigte Siegel. „Ich denke doch, dass er wieder auftauchen wird? Gibt es irgendeinen Grund, das Gegenteil anzunehmen?“
„Immerhin wird er seit vier Tagen vermisst. Da Sie selbst sein Verschwinden gemeldet haben …“
„Das war wohl meine verdammte Pflicht, oder?“
„Was mir bemerkenswert erscheint, ist Ihr Altersunterschied: Born war sechsundsechzig, Sie sind …“ Rommer blätterte in seinen Unterlagen, „zweiunddreißig. Für Geschäftspartner ziemlich ungewöhnlich.“
Siegel trank wieder aus der Flasche. „Wir sind schließlich nicht miteinander verheiratet. Und wenn Sie denken, dass ich‘s mit seiner Frau oder Freundin getrieben habe? Er hatte keine …“
„Man sagt, er sei krank gewesen? Er habe in den letzte Jahren nur noch selten das Haus verlassen? Von seiner Arbeit in der Firma mal abgesehen?“
„Die Nachbarn – das haben Sie von den Nachbarn, nicht wahr?“, erkundigte sich Siegel verächtlich. „Born ist zuckerkrank und leidet an depressiven Störungen – gelegentlich“, fügte er hinzu. „Völlig richtig. Aber er fuhr manchmal ins Naturschutzgebiet hinaus, um sich zu erholen.“
„Auch an dem Tag, als er verschwand?“
„Frank hatte sich einen Spazierstock zugelegt, weil er schon einige Male am Steilufer ausgeglitten war. Kein Wunder bei dem Wetter …“
„Er arbeitete also hauptsächlich zu Hause, wenn ich richtig verstehe?“
„An der Koordinierung der Arbeitsprojekte, ja. Frank fügte ihre Einzelergebnisse zusammen und gab die Resultate an seine Auftraggeber weiter. Einmal im Monat ließ er die leitenden Mitarbeiter der Firma zur Besprechung zu sich kommen. Und dann war da natürlich noch die Ausgabe der Arbeitsunterlagen.
Sie werden in Tresoren aufbewahrt. Kleinere Tresore in den Schreibtischen der Techniker und ein großer Tresor hinter Franks Büro, zu dem nur er selbst den Schlüssel besitzt. Das Ganze auf kopiersicheren Unterlagen:
Schwarzrot-Folien und in Kunststoff eingegossene Metall- und Magnetstreifen für die elektronische Sicherung an der Pförtnerloge. Man nimmt‘s ziemlich genau bei uns. Aber es kam auch vor, dass er zu den ungewöhnlichsten Zeiten wie aus heiterem Himmel im Betrieb auftauchte.“
„Um seine Leute zu verunsichern?“
„Zu verunsichern …?“ Siegel dachte nach. „Ja, so könnte man‘s wohl nennen. Und um nachts zu arbeiten. Er hat was von einem misstrauischen alten Elefanten, der sich von der Herde absondert.“
„Um so erstaunlicher, dass Sie sich sein Vertrauen sichern konnten“, sagte Rommer. „Sie kamen vor knapp einem Jahr in die Firma. Schon fünf, sechs Wochen später würden Sie sein Kompagnon und Stellvertreter – sehe ich das richtig?“
„Als er entdeckte, dass er‘s gesundheitlich nicht verkraften würde, stimmt. Ich brachte eine eigene Entwicklung ein, ein elektronisches Bauteil. Das muss ihm ziemlich imponiert haben. Seine Techniker hatten ein paar Jahre lang vergeblich daran gearbeitet.“
„Und welcher Art war dieses Bauteil , wenn ich fragen darf?“, erkundigte sich Augsburger vom Sessel aus.
„Oh … ein, hm – ein Zufallsgenerator. Ja, ein Zufallsgenerator.“
„Wie der da in den Spielautomaten?“
„In den …? Ja, ja genau. Darin haben wir das Ding zum ersten Mal getestet.“
„Etwas später zogen Sie zu ihm, nicht wahr?“
„Weil er gern über technische Fragen diskutierte. Hier in der Gegend ist es schwer, eine Wohnung zu bekommen. Hohe Grundstückspreise. Dazu das nahe Naturschutzgebiet. Später beließen wir‘s einfach dabei. Er sagte:
‚Nehmen Sie sich eine Wohnung, Siegel, falls ich Ihnen auf die Nerven gehe. Aber bleiben Sie, solange es Ihnen gefällt. Für einen alten Kerl wie mich ist das Haus viel zu groß.’
Er liebte es, mitten in der Nacht aufzustehen und technische Probleme oder weltanschauliche Fragen zu erörtern.“
„Und Sie standen gern dafür zur Verfügung?“
Siegel hielt den Zigarillo zwischen seinen Fingern, ohne ihn anzuzünden; dann steckte er ihn in die Schachtel zurück und legte sie neben sich auf den Parkettboden.
„Sehen Sie …“, meinte er nachdenklich. „Im Grunde verbindet uns die gleiche Besessenheit, ja, so muss man es wohl nennen. Wir alle ahnen, dass Elektronik unser Schicksal entscheiden könnte. Ein phantastischer Gedanke:
Was die Physiker durch die Entwicklung der Kernspaltung heraufbeschworen haben, ließe sich durch neue Abwehrsysteme neutralisieren. SDI zum Beispiel – viele glauben, dass es nie eine Elektronik solchen Perfektionsgrads geben wird.
‚ Das Fenster der Verwundbarkeit ’, so nennt man das wohl im Jargon?
Aber vor einem halben Jahrhundert konnte sich auch niemand vorstellen, wie viele Schaltungen einmal auf der Größe eines Fingernagels unterzubringen sein würden. Vor etwa neunzig Jahren glaubte man, der Glühstrumpf sei die Lichtquelle der Zukunft. Diese Leute haben sich gründlich getäuscht. Daran gemessen erscheint eine etwas perfektere elektronische Steuerung gar nicht mehr so unwahrscheinlich.“
„Und über solche Themen unterhielten Sie sich nachts?“
„Es war wohl Sympathie auf den ersten Blick. Ich glaube, er sah in mir so was wie einen Sohn. Frank hatte keine Kinder.“
„Aber nicht den Erben?“
„Was meinen Sie...? Nein.“ Siegel zögerte. „Überrascht mich etwas, der Gedanke.“
„Ich hätte gewettet, Sie würden den Laden erben?“
„Nein. Seine Schwester betreibt in den Staaten ein uneigennütziges Altenwerk. Keine Gewinne, verstehen Sie? Das hat ihm anscheinend imponiert. Er hatte ihr schon vor Jahren zugesichert, bei seinem Tode sein ganzes Barvermögen in diese Organisation zu stecken.“
„Auflösung oder Verkauf?“
„Verkauf. Der Laden soll von einem europäischen Multi geschluckt werden. Verträge darüber liegen schon beim Notar.“
„Mit anderen Worten – Sie gingen leer aus?“
„Bin auch nie daran interessiert gewesen. Erbschleicherei liegt mir nicht.“
„Und Ihr eigener Anteil?“
„Man würde mich auszahlen.“
„Hm …“ Augsburger nickte versonnen. Er war aufgestanden, ging zu einem der Spielautomaten hinüber und betrachtete die Anzeige; dann nahm er eine Münze aus dem Portemonnaie und wandte sich nach Siegel um. „Sie gestatten doch?“
„Seltsam, diese Dinger da an den Wänden, oder?“, fragte Rommer, ohne Siegels Kopfnicken abzuwarten. „Für ein Wohnzimmer, meine ich.“
„Jeder hat seine Marotten.“
„War das Ihre Idee?“
„Als Frank noch gesund war, soll er keine Gelegenheit ausgelassen haben, sein Geld in solche Apparate zu stopfen. Ich schlug ihm vor, zwei oder drei in seinem Wohnzimmer aufzuhängen. Das sei billiger – und praktischer.“
„Etwas ausgefallener Geschmack, oder?“
„Er fand die Idee ausgezeichnet.“
„Und – gewann er?“
„Wir spielten manchmal um die Wette. Ja, er gewann fast jeden Zweikampf.“
Augsburger kehrte schweigend an seinen Platz zurück. Er hatte mehrere Münzen verspielt, ohne einmal gewonnen zu haben.
Siegel bemerkte, dass er sich nachdenklich umblickte. Die Scheiben waren beschlagen – als herrsche im Zimmer ungewöhnlich hohe Luftfeuchtigkeit –‚ obwohl es drinnen kaum kälter als draußen sein konnte.
Dann erhob er sich wieder und schlenderte zum Fenster. Die Doppelgarage mit dem Geräteschuppen an der Mauer zum Waldhang war noch nicht ganz fertig. Im Garten lagen Backsteine neben Baugeräten und einer Mischmaschine für Mörtel.
„Was glauben Sie, wo könnte er stecken?“, fragte Rommer von seinem Sessel aus. „Wo würden Sie ihn suchen?“
Siegel bemerkte voller Unbehagen, dass Augsburgers Blick gespannt an seinen Augen hing – als könne schon eine unmerkliche Bewegung der Pupillen ihn verraten und Augsburger dazu bringen, sofort aufzuspringen und im Schrank oder in den beiden breiten Sitztruhen nachzusehen. Oder unter dem Teppich nach einer geheimen Falltür zu forschen...
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