„Ja, ja, kümmert Euch …“ Unvermittelt brach die hoch gewachsene Frau in Tränen aus, sank auf die Knie und schlang einen Arm um das Mädchen, im anderen den Säugling, wiegte sich vor und zurück. Mitfühlend berührte Bahadir ihre Schulter. „Ich … Wartet, ich bin gleich wieder bei Euch.“
Suchend sah er sich in dem Durcheinander nach seinem Pferd um, fand es schließlich und schnallte mit klammen Fingern die Decke ab. Legte sie der Frau sorgsam um die Schultern. „Hier. Ich weiß, die Decke ist feucht, aber …“
Sie schaute schluchzend auf. „Ihr seid kein Manduraner?“
„Nein. Mein Name ist Bahadir, ich bin Priester des Jägers. Von den Inseln.“ Er zuckte die Schultern, als er ihren fragenden Blick bemerkte. „Ist eine lange Geschichte.“
„Das glaube ich auch. Ihr spracht von Gardisten, was … Welche Einheit?“
„Ähm, ich … die von einem Hauptmann Hiron, wenn Euch das etwas sagt?“
Die Frau nickte, ein müdes Lächeln zeigte sich auf ihren Zügen. „Mein Bruder. Und wer ist der große, dunkle Mann dort drüben?“
„Meister Liz-Rasul. Die Zauberin hielt seine Anwesenheit hier für sinnvoll und bestand darauf, ihn …“
„Die Zauberin? Welche …“ Sie packte seinen Arm. „Ihr redet doch nicht etwa von Mara?“
„Doch, sicher.“
„Mara ist hier?“ Ungläubig starrte die Frau ihn an.
„Ja. Sie ist der Grund, warum wir alle hier sind, ich meine, Hauptmann Hiron und seine Männer, Meister Liz-Rasul und dieser Junge, Janek, der Gardist Ron, ich. Sie … ich glaube, sie hat einigen Leuten gedroht, sie würde sonst allein gehen, und …“ Bahadir wurde rot, warum erzählte er das dieser Frau. „Ihr kennt sie?“
„Ich kenne sie, ja, ziemlich gut sogar. Göttin, Mara … Wo? Wo ist sie, Priester?“
Bahadir hatte keine Ahnung, vor nicht allzu langer Zeit war Mara noch oben auf der Anhöhe gewesen und hatte Anweisungen erteilt, dann … Er hatte sie aus dem Blick verloren, fühlte sich verwirrt von der Frau, ihren eindringlichen Fragen. „Eben war sie noch … Ich fürchte, sie kämpft …“
Im gleichen Moment sah er sie jedoch gemeinsam mit dem Gardisten Ron zu Pferde herankommen, der sichtlich aufgebracht schien und sich lautstark mit ihr stritt. „Verdammt, wir hatten eine Abmachung, und du …“
„Pah, Abmachung! Hätte ich zusehen sollen, wie der Dreckskerl dich erschlägt?“
„Dazu wäre es doch gar nicht gekommen! Aber du prescht einfach mitten unter die …“
„Hat sie mächtig beein…“ Mara zügelte abrupt ihr Pferd, riss sich den Helm vom Kopf, sprang in den Matsch und rannte die letzten Schritte auf ihn, eher noch auf die Frau zu. „Ondra! Oh, Ondra, ich bin ja so froh, ihr habt es geschafft!“ Gleichzeitig lachend und weinend fiel sie der Frau um den Hals, strich ihr sacht die Tränen aus dem Gesicht, bevor sie sie innig auf den Mund küsste, alsdann das kleine Mädchen, welches sie mit großen, verheulten Augen anblickte, fest an sich drückte. Was sie ihm leise zuraunte, verstand er nicht, doch das Mädchen nickte, erst zögernd, dann entschieden, lächelte zaghaft und schmiegte sich an Maras Schulter.
Noch immer fassungslos betrachtete die Frau – Ondra – Mara, bemüht, den schreienden Säugling zu beruhigen. „Himmel, Mara, was tust du hier?“
„Helfen. Ich wusste ungefähr, wo ihr wart, welchen Weg ihr nehmt, und …“ Mara zuckte die Achseln und löste mit geübtem Griff die Schnallen ihrer gepolsterten und, wie er erfahren hatte, überaus schweren Schutzweste. „War nicht schwierig, deinen Bruder zu überzeugen, der Rest ergab sich dann.“
„Aber … Mara, du, du … Mitten im Krieg kommst du mit einer Einheit Gardisten, um ein paar Flüchtlinge vor den Übergriffen ostländischer Soldaten zu bewahren?“
Maras Züge wurden beinah so ausdruckslos und kalt wie die Rons. „Ein paar mehr. Wie geht es dem Kleinen?“
„Garik ist nass und hungrig und müsste dringend gewickelt werden, aber sonst … fehlt ihm wohl nichts.“ Verwirrt schüttelte Ondra den Kopf, runzelte die Stirn und sah zu Ron. „Ihr seid doch aber in Hauptmann Davians Einheit gewesen, Ei…“
„Ron. Bin ich noch.“
„Oh.“ Ondra nickte und schaute hilflos um sich, auf die jüngere Frau, die sich den Arm hielt, ihren älteren Begleiter. „Was machen wir jetzt? Ich meine … Sie …“
Ron blickte kurz zu Mara, bevor er antwortete. „Hauptmann Hiron wird mit seinen Männern, übrigens nur die halbe Einheit, noch eine Weile die Ostländer beschäftigen, sich dann zurückziehen. Wir lagern hier die Nacht.“
„Und morgen?“
Wieder schaute Ron Mara an, eine Art Lächeln auf dem Gesicht. „Über die Ebenen nach Samala Elis. Und Ihr geht mit ihnen.“
* * *
„Sie ist …“ Hiron stockte. „… war eine unabhängige Frau, Mavis Mutter. Sie brauchte niemanden, keinen Menschen.“
Wachsam blickte er in die Nacht, nicht in Maras Richtung, angespannt auf eine Bewegung, ein Geräusch in der Dunkelheit wartend. Dabei hatte er selbst ihr gesagt, er glaube nicht, die Ostländer würden noch vor dem Morgengrauen angreifen. Im behelfsmäßigen Lager im Wagenkreis hinter ihnen war so etwas wie Ruhe eingekehrt, das Weinen und Wehklagen verstummt, obwohl Mara bezweifelte, dass die Mehrzahl der Frauen schlief. Die Kinder vielleicht, im Schlaf wimmernd, wie der kleine Junge zwischen ihr und Janek, von schlimmen Alpträumen geplagt. Im Wachen hatte er nicht geredet. Völlig erschöpft von dem tagelangen Gewaltmarsch, der Flucht aus Dalgena.
Hiron lachte rau auf. „Und am allerwenigsten brauchte sie mich. Sie erzählte mal, ihr jüngerer Bruder würde mich hassen, was ich bin, meine Familie. Wofür meine Familie steht. Ich bin ihm allerdings nie begegnet. Wir haben uns nicht oft gesehen, Gela und ich, fünf-, sechsmal im Jahr, immer nur für wenige Tage. Mehr brauchte, mehr wollte sie auch nicht, sie sagte, diese Tage reichen ihr.“
„Und Euch?“
Er warf ihr einen raschen Seitenblick zu, zuckte die Achseln. „Es war genau das, was ein Mann sich wünscht, nicht wahr? Keine Verpflichtungen, keine Fragen. Kein Alltag, kein Ärger, nichts. Und anfangs reichte es mir tatsächlich, später … Sie hat mir nicht mal gesagt, dass sie ein Kind erwartet, der Kleine war einfach da. Bevor Ihr fragt, ich habe ihn anerkannt, Mavi ist mein Sohn. Gela wollte das nicht, sie fragte, wie ich denn sicher sein könne, sein Vater zu sein. Nun, ich bin sein Vater und ich stehe zu meiner Verantwortung, meinen Verpflichtungen, auch wenn ihre lausigen Brüder das … Aber wer weiß, ob die überhaupt noch leben, irgendjemand aus ihrer Familie. Vielleicht hat der Junge nur noch mich. Und ich …“ Mara hörte, spürte, wie Hiron um eine feste Stimme kämpfte. „Würdet Ihr Euch des Jungen annehmen, bis ich zurückkehre?“
„Hiron …“
„Ich bin nicht lebensmüde, Mara, aber es ist eine Chance, Domallen hat das doch nicht nur so angesprochen: näher an die Ostländer, gar an Marok heranzukommen, um sie mit falschen Informationen zu füttern und dabei selbst Wissen über ihr Vorgehen, ihre Pläne zu sammeln.“
„Es ist Selbstmord, Ihr dürft …“
„Ich weiß, was Euer Mann sagt, und ja, es ist gefährlich. Doch jemand sollte es tun, und ich kann keinem meiner Männer einen derartigen Auftrag erteilen. Ich muss es selber machen, Zauberin.“
„Es ist gleichgültig, was ich sage, oder? Ihr habt das bereits für Euch entschieden.“
Hiron brummte nur, hockte sich zu seinem schlafenden Sohn und strich ihm behutsam über das Haar. „Ich muss es tun, versteht Ihr das nicht? Für ihn, und für Gela.“
Doch die war tot und Hiron auf dem Weg, sich zu opfern. Für eine bloße Möglichkeit, die vage Chance, den Verlauf des gerade beginnenden Krieges in eine günstigere Richtung zu lenken. Mara sprach es nicht aus, sie sagte ihm auch nicht, dass sein Verhalten im Zweifelsfall als Desertion betrachtet werden könnte. Fragte ebenso wenig, warum er nicht seine Schwester Ondra darum bat, auf seinen Sohn acht zu geben.
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