Benommen von der Hitze, der Angst und den Schmerzen torkelte er nach Hause. Das Beerdigungsinstitut stand noch. Die Fensterscheiben waren zerborsten, die Haustür halb eingedrückt, aber das Gemäuer schien unversehrt.
Er lief hinein und rief nach seiner Familie. Niemand antwortete ihm. Im Schlafzimmer sah er sofort, dass der Notkoffer fehlte. Sicherheitshalber sah er auch im Keller nach, aber auch da war niemand. Vollkommen erschöpft sank er auf die Knie. Tränen der Erleichterung rannen ihm über das Gesicht. Zwar war das noch keine Garantie, dass sie lebten, aber immerhin gab es ihm Hoffnung.
Langsam wurde ihm bewusst, dass das Dröhnen nachgelassen hatte. Mühsam erhob er sich und stieg die Treppe wieder hinauf. Durch die Rauchwolken am Himmel konnte er vage in der Ferne die letzten Flugzeuge abdrehen sehen. Er schaute in die andere Richtung, zur Innenstadt, aber da war nichts zu sehen außer Rauch und Asche. Angestrengt horchte er, versuchte alle anderen Geräusche auszublenden. Vereinzelte Explosionen. Kein Motorenlärm. Stattdessen glaubte er, in der Ferne die Sirenen der Feuerwehr zu hören.
Mit neu gewonnener Kraft machte er sich auf den Weg Richtung Sedanbunker, um Befehle für den Löscheinsatz zu bekommen, als ihm einfiel, dass bei Strullkötters in der Fabrik Menschen waren.
Er rannte den Weg wieder zurück, sah schon von weitem die Flammen noch immer meterhoch aus den Werkshallen schlagen.
Auf Höhe der Apotheke saß Brüggemann nach wie vor auf dem Schutthaufen. Die Apotheke brannte inzwischen auch, aber er schien die Hitze nicht zu spüren. Er gab dem Friseur einen Schubs, der ihn zu Fall brachte.
„Jetzt komm mit! Bei Strullkötter sind Leute im Werk, denen können wir vielleicht noch helfen!“
Er fragte sich kurz, ob er jemals wieder in normaler Lautstärke würde sprechen können und schüttelte dann den Kopf über seine absurden Gedanken.
Brüggemann rappelte sich auf und blickte ihn irritiert an. „Das sind Ostarbeiter.“
„Und?“
„Es gibt eine Anweisung des Kreisleiters, dass zuerst Volksgenossen gerettet werden müssen.“
„Und?“, wiederholte er.
Er zerrte den Mann unsanft die Straße hinunter, Richtung Fabrik.
„Ich habe Sie gerade vor den Flammen an der Apotheke gerettet. Jetzt helfen wir gemeinsam den Fabrikarbeitern.“
Unschlüssig zuckte Brüggemann die Schultern, kam aber mit.
Kurz bevor sie die Fabrik erreichten, wurden sie von dem Drogisten Schultz aufgehalten. Vor seiner Drogerie war ein Blindgänger niedergegangen und lag nun mitten auf der Straße in einem kleinen Krater.
„Was mache ich denn jetzt?“, fragte er mit weinerlicher Stimme, offenbar der Ansicht, dass ein Wehrmachtsoffizier immer eine Antwort hatte.
„Jemanden kommen lassen, um den Zündkopf auszubauen“, schlug Kattenstroth vor.
„Können Sie das nicht?“ Schultz wirkte ein wenig enttäuscht.
„Ich bin bei der Infanterie“, sagte er, als ob das alles erklären würde. „Lassen Sie den Blindgänger da, wo er ist, und kommen Sie mit zu Strullkötter. Da sind Menschen in der Fabrik.“
„Na und? Ich habe hier genug eigene Sorgen, was scheren mich da Strullkötters Fremdarbeiter.“
Kattenstroth wollte ihn wütend anfahren, wurde aber von Brüggemann am Arm weitergezogen.
„Habe ich doch gesagt, dass das niemanden interessiert. Jetzt kommen Sie, ich dachte, Sie wollten denen helfen.“
Kattenstroth zögerte einen Moment, er hatte das Gefühl, jeden Moment würde sein Bein einfach nachgeben, aber darauf konnte er jetzt keine Rücksicht nehmen.
Er folgte Brüggemann, der immerhin gewillt schien, ihm wirklich zu helfen. Hinter sich hörten sie Schultz etwas Unverständliches vor sich hin meckern.
Als sie sich noch einmal umdrehten, schaufelte er Erde und Schutt in den Bombentrichter.
„Ach du Kacke!“, schrie Brüggemann und warf sich zu Boden. Kattenstroth wurde mitgerissen.
Im nächsten Moment explodierte alles um sie herum.
*
Wie aus einem Nebel tauchte die Welt um ihn herum wieder auf. Verschwommen sah er das Gesicht Malwines. Wahrscheinlich ein Traum. Das war in Ordnung, da konnte er beruhigt die Augen wieder schließen.
Etwas rüttelte ihn. Die Explosion. Jetzt würde er doch noch sterben. Jemand strich ihm sanft über die Wange.
Es war anstrengend, die Augen wieder zu öffnen, aber das war nun doch zu merkwürdig. Schon wieder Malwines Gesicht. Vielleicht doch kein Traum. Ein Kind. Sein Kind. Mutter. Wo kamen nur all die Gesichter her?
Irgendwas tropfte auf sein eigenes Gesicht. Regnete es? Es war doch ein schöner, sonniger Herbsttag gewesen. Aber da war etwas vom Himmel gefallen. Bomben. Feuer. Da war kein Regen. Jetzt regnete es. Die Gesichter waren auch nass. Salz. Tränen. Die Gesichter weinten. Ergab auch mehr Sinn. War er tot und sie weinten um ihn? Warum konnte er darüber nachdenken?
Ein Hustenanfall erschütterte ihn und der Schmerz im Brustkorb raubte ihm den Atem. Etwas wurde ihm an die Lippen gehalten. Flüssigkeit. Wasser. Er trank einen Schluck, was den Schmerz noch verstärkte. Malwines Gesicht lächelte und weinte gleichzeitig. Sie beugte sich vor und küsste ihn sanft auf die Stirn. Langsam sickerte in sein Bewusstsein, dass er nicht nur in seinem eigenen Bett lag, sondern auch, dass seine gesamte Familie um ihn herum versammelt war. Sie hatten überlebt. Tränen der Erleichterung rannen nun auch über sein eigenes Gesicht. Er versuchte sich zu erinnern, wie er hierhergekommen war. Der blöde Schultz hatte den Blindgänger zugeschüttet.
„Der blöde Schultz“, murmelte er.
Malwine schaute ihn fragend an.
„Blindgänger“, krächzte er, was aber nicht hilfreich zu sein schien.
„Drogerie Schultz?“, fragte sie und er nickte schwach.
„Der Mann ist tot. Wolltest du ihm helfen?“
„Wollte zu Strullkötter.“ Das Sprechen fiel ihm schwer. „Wasser, bitte.“
Sie hielt ihm das Glas erneut an die Lippen.
„Man hat dich gefunden, halb unter Trümmern begraben. Der Brüggemann lag auf dir, das hat dir wahrscheinlich das Leben gerettet“, erklärte sie. „Er selber hat es leider nicht überlebt.“
Kattenstroth schloss die Augen. Na bitte, Brüggemann. Da hattest du dein letztes Opfer für Führer, Volk und Vaterland. Selbst in seinem Kopf klangen die Gedanken bitter. Er war so müde. Er hätte da mit Brüggemann sterben sollen. Wieso war immer er derjenige, der überlebte? Wie viele Freunde, Kameraden, Bekannte musste er noch begraben? Hörte das denn nie auf?
Malwine tätschelte ihm die Wange. „Jetzt komm erst mal wieder auf die Beine. Hast ziemlich was abbekommen.“
Nicht genug, um zu sterben, dachte er grimmig. Aber er wusste, Malwine würde kein Verständnis für solche Gedanken haben. Vielleicht sollte er wirklich noch ein wenig schlafen. In seinem Kopf dröhnte es, er glaubte, immer noch Explosionen zu hören. Seine Gedanken wurden merkwürdig schwammig. Er fühlte sich wie in Watte gebettet. Malwine hatte irgendetwas ins Wasser gerührt. Laudanum. Wiebrecht. Die Apotheke brannte. Watte und Phosphor. Wo sind die Beine hin? Brands Busch, in Sicherheit. Tot.
2. Oktober
„Nun, dann muss er eben aufgeweckt werden“, ertönte eine laute, fordernde Stimme. Kattenstroth war davon erwacht. Die Stimme gehörte zu Eduard Pannhorst. Was hatte der hier zu suchen? Musste der nicht die Löscharbeiten koordinieren?
„Hören Sie, Herr Ortsgruppenleiter.“ Kattenstroth gefiel es, mit welcher Abscheu Malwine das Wort ausspucken konnte, ohne dabei tatsächlich respektlos zu klingen. „Mein Mann hat schwerste Verletzungen davongetragen, als er versuchte, anderen zu helfen. Ich lasse nicht zu, dass Sie ihn jetzt belästigen. Er kann Ihnen ohnehin nicht helfen, er ist zu schwer verwundet.“
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