Nur zu gerne hätte sie es jetzt gesehen, dass Dominik in die Küche gekommen wäre und sie hier beim Rauchen ertappt hätte. Genussvoll zog sie an der Zigarette und blies den Rauch aus. Vermutlich würde er einen Aufstand machen, weil sie es wagte, in der Küche zu rauchen. Was bildete er sich eigentlich ein? Nur weil er vor ein paar Jahren das Rauchen aufgegeben hatte, sollte sie darauf verzichten? Dieser Langweiler! Sie würde sich nie wieder etwas vorschreiben lassen. So wie von ihrer Mutter, die sie ständig herumkommandiert hatte, sofern sie nicht gerade besoffen war. Seitdem hasste sie es, wenn man ihr Vorschriften machte.
Sie wollte gerade einen Teebeutel in den Becher geben und kochendes Wasser eingießen, als sie zusammenfuhr. Schon wieder hatte sie ein Geräusch gehört. Als ob jemand Steinchen gegen das Küchenfenster geworfen hätte. Das Geräusch kam eindeutig von draußen. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie die Zigarette auf den Aschenbecher ablegte und aufstand, um aus dem Fenster zu schauen. Die Nacht war pechschwarz. Eine Wolke hatte sich über den Mond geschoben, so dass man im Vorgarten kaum etwas erkennen konnte. Sie musste daher das Licht in der Küche wieder ausschalten, um draußen etwas erkennen zu können. Und als sie das getan hatte und wieder zurück ans Fenster ging, konnte sie draußen etwas erkennen. Nein, das war unmöglich! Sie musste Halluzinationen haben. Sie konnte nicht glauben, wer dort vor dem Fenster stand und sie angriente.
Sie stürzte sofort zur Haustür und öffnete sie, um im Nu zu spüren, wie die kalte Nachtluft den dünnen Seidenstoff ihres Pyjamas durchdrang. Scheiße, ist das kalt, dachte sie. Dennoch blieb ihr nichts anderes übrig, als vor die Tür zu treten.
„Du hast mich zu Tode erschreckt! Was machst du hier? Bist du verrückt geworden, hierher zu – “. Weiter kam sie nicht, denn der nächtliche Besucher umarmte sie und presste seine Lippen auf die ihren. Er schien ihr die Luft aus den Lungen heraussaugen zu wollen.
***
Man merkte den beiden Jungen ihre Angst an, obwohl Jamie, der körperlich stärker als Robby war, seine Furcht zu überspielen versuchte.
„Ist das eine Nachtigall?“, fragte er und blieb stehen, um dem trällernden Gesang eines Vogels zu lauschen, der irgendwo auf einem nahe gelegenen Baumwipfel in der Heidelandschaft saß.
„Keine Ahnung. Kann auch ein Kuckuck sein“, sagte Robby. „Lass uns einfach nur weiterlaufen und irgendjemanden finden, den wir nach dem Weg fragen können. Irgendwie finde ich es hier ziemlich ätzend. Weit und breit kein Mensch.“ Als er dann auch noch auf einen vertrockneten Ast trat, erschrak er. „Scheiße! Wieso habe ich mich nur auf diese blöde Radtour mit dir eingelassen?“
„Mensch, Robby, sei keine Memme“, sagte Jamie. „Du wolltest doch schon immer mal ein kleines Abenteuer erleben. Im Internat ist ja alles soooo langweilig, sagst du doch immer. Also, dachte ich mir, mache ich dir eine kleine Freude mit der Radtour durchs Moor.“
„Ja, eine Radtour, die wir seit Stunden zu Fuß unternehmen, weil dein Fahrrad einen Platten hat und du Hornochse nichts zu flicken mitgenommen hast. Wir bekommen sicherlich mächtigen Ärger, wenn wir morgen nicht rechtzeitig wieder in der Schule zurück sind.“
„Falls wir jemals wieder dorthin zurück finden und nicht vorher von Werwölfen oder der Bestie vom Bodmin Moor angefallen werden“, antwortete Jamie und ahmte einen heulenden Wolf nach.
Der Vierzehnjährige liebte es, Robby aufzuziehen. Es war aber nicht böse gemeint, sondern eher eine Fopperei unter guten Freunden. Noch vor zwei Jahren, als Robert Daltrey auf die Saint Patrick School in Truro gekommen war, sah es ganz anders aus. Da hatte Jamie den Neuzugang überhaupt nicht leiden können. „Daltrey ist ein Snob“, hatte er damals zu seinen Mitschülern gesagt. Aber er hatte dann bald herausgefunden, dass hinter Robbys hochnäsiger Fassade ein überaus netter Kumpel steckte, der einen auch mal bei Klassenarbeiten abschreiben ließ.
„Wie witzig“, antwortete Robby, dem nun auch noch kalt wurde und der schon alleine Gänsehaut davon bekam, wenn er nur daran dachte, in der Dunkelheit im nebelverhangenen Moor herumlaufen zu müssen.
Die beiden Schulfreunde hatten sich am Morgen mit ihren Rädern in Truro in einen Zug gesetzt und waren bis nach Bodmin gefahren, um von dort aus mit dem Fahrrad unbekannte Gefilde zu erkunden. So erreichten sie den südlichen Teil des Bodmin Moors und näherten sich einem Gebiet, das durchzogen war von Heidelandschaft und dem River Fowey mit seinen weit verzweigten Seitenarmen. Nicht umsonst nannte man noch im frühen 19. Jahrhundert die Gegend hier Fowey Moor.
Sie waren durch die fast menschenleere Heide geradelt, vorbei an Hügelgräbern und Steinkreisen, bis sie Dozmary Pool erreichten, den graublauen See, in den, wie Jamie seinem Freund stolz erklärt hatte, nach der Überlieferung der Artussage, Sir Bedivere das Schwert Excalibur warf, um es der Dame vom See zurückzugeben. Kaum hatte er seine kleine Geschichte zu Ende erzählt, war Jamie über irgendetwas Spitzes gefahren, einen Stein oder eine Glasscherbe, wodurch der Vorderreifen seines Rads einen Platten bekommen hatte. Seitdem hatte er es neben sich her schieben müssen, und Robby war nichts anderes übrig geblieben, als dasselbe zu tun.
„Da vorne plätschert es. Hoffentlich müssen wir nicht auch noch durch einen Bach laufen.
Bist du dir sicher, dass es hier nach Bolventor geht?“, fragte Robby. „Man kann doch im Dunkeln kaum etwas sehen.“ Seine Stimme klang weinerlich.
„Vertrau mir. Ich war schon mal hier in der Gegend.“
„Ach ja? Und wann soll das gewesen sein?“
„Mit meinen Eltern und meinen Brüdern, vor etwa fünf Jahren. Da haben wir das Bodmin Moor auch zu Fuß erkundet.“
„Und? War euch unterwegs auch Essen und Trinken ausgegangen? Ich habe schrecklichen Hunger“, quengelte Robby. „Mir ist nur noch ein Stück Müsliriegel geblieben, das ist meine Notration. Und außerdem ist mir kalt.“
„Du wirst schon nicht verhungern“, antwortete Jamie, dem selber der Magen knurrte. „Außerdem schadet es dir nicht, wenn du etwas abspeckst, Fetty.“
Robby, der in der Tat nicht gerade sportlich war und für sein Leben gerne aß, schaute seinen Freund beleidigt an, sagte aber nichts. Stattdessen holte er den halben Müsliriegel aus seinem Rucksack und stopfte ihn sich mit trotzigem Gesichtsausdruck in den Mund.
Jamie hatte aber schon nicht mehr darauf geachtet. Er war viel zu sehr damit beschäftigt gewesen, die Umgebung nach etwas Bekanntem zu erkunden. Wenigstens hatten sie Taschenlampen dabei, die ihnen den Weg beleuchteten. „Da vorne ist ein Hinweisschild“, sagte er endlich und lief voraus, während er sein Rad neben sich her schob.
„Verdammt! Komm ja nicht auf die Idee, mich hier alleine zu lassen!“, rief ihm Robby hinterher. Na warte, Freundchen. Dir werde ich mal zur Abwechslung auch einen Schrecken einjagen. Und dann setzte er sich sofort aufs Rad und fuhr in schnellem Tempo an Jamie vorbei, der an dem verwitterten Hinweisschild stehen geblieben war und es mit seiner Lampe anstrahlte.
„Hey, Daltrey. Bleib hier! Zum Stausee geht’s da lang. Das Schild weist nach Colliford Lake. Von dort aus ist es nicht mehr weit nach Bolventor.“
In der kleinen Ortschaft Bolventor hofften sie, noch einen offenen Pub zu finden, in dem sie eine warme Mahlzeit bekämen und irgendwo vielleicht auch Flickzeug für Jamies Rad. Aber es war bald Mitternacht, so dass es ziemlich unwahrscheinlich werden würde.
Robby, der die Idee, alleine ohne Jamie wegzuradeln, auch nicht mehr so toll fand, schloss sich wieder seinem Schulfreund an und lief an seiner Seite in die Richtung, in die der Pfeil zeigte, entlang eines Weges, der vom tagelangen Regen aufgeweicht war. Zwar hatte es seit einigen Stunden aufgehört zu regnen, dafür setzte ihnen der starke Wind zu, der über das Moor fegte und die Landschaft schaurig klagen ließ.
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