Nach etwa zweihundert Metern machte die Straße eine leichte Rechtskurve, und er sah zu seiner Linken ein Gatter, hinter dem eine Weide lag. Auch wenn er nicht wusste, ob er da hineindurfte, öffnete er das Tor und verriegelte es gleich wieder hinter sich. Und dann sah er die flach abfallende Wiese, übersät mit Tausenden von kleinen, gelben Blumen. Von hier oben bot sich eine überwältigende Aussicht. Dort unten lag der Ärmelkanal, der, grau-blau aufgewühlt, die schroffen Steinklippen der geschwungenen Küste mit seinen weißen Schaumkronen umspülte. Die turmhohen Kliffs aus farbigem Sandstein und grau-schwarzem Granit waren bizarr zerklüftet oder rundgeschliffen und zu Skulpturen geformt wie von gigantischer Künstlerhand. Sein Blick erfasste das Panorama einer sich zu beiden Seiten ausbreitenden grünen Steilküste mit sanften Hügeln im Hinterland. An einem Hang rechts in der Ferne klebte ein weißes Herrenhaus, an dem sich ein Pfad vorbeischlängelte, der sich im satten Grün des dicht bewachsenen Hangs verlor. Das musste wohl der Küstenpfad Südenglands sein, dachte er und schaute nach links rüber. Schafe und Pferde weideten auf den gelblich-grünen Hügeln mit den hohen, windgepeitschten Kiefern. Aus einer der Baumkronen lugte ein rechteckiger Kirchturm hervor. Gleich morgen früh wollte er mit den Notizen für den Reisebericht beginnen und vor allem Fotos machen. Sollte doch Anna der Teufel holen. Zur Not würde er ihr die nächsten Tage einfach aus dem Weg gehen. Aber im Moment wollte er weder an sie noch an ihre Launen denken, sondern nur das Gefühl genießen, das allmählich von ihm Besitz nahm.
Es war ein Kribbeln, das er schon lange nicht mehr gespürt hatte und schon als Kind erlebt hatte, wenn er glücklich war. Auf einmal wurde ihm klar, dass er in Annas Gesellschaft noch nie dieses Kribbeln gespürt hatte wie jetzt, ganz alleine, Mitten in dieser friedvoll wirkenden Postkartenlandschaft. Er badete in einem warmen Gefühl von Ruhe und Glück. Es war mächtig und stark, verwandelte sich dann in ein innerliches Kitzeln und entlud sich schließlich in einem plötzlichen Gefühlsausbruch. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die das graublaue Wasser des Ärmelkanals, die Bucht und die Ausläufer der schroffen Steilküste verschwimmen ließen.
Und dann brach es gänzlich aus ihm heraus. Sein Körper bebte förmlich. Er ging in die Hocke, kniete sich auf das feuchte Gras und begann zu schluchzen wie ein kleiner Junge. Zu lange hatte er sich zurückgehalten und versucht, seine verletzten Gefühle zu ignorieren. Zu lange hatte er sich etwas vorgemacht. Doch jetzt wurde ihm klar, dass sich etwas ändern musste – nein, dass er etwas ändern musste. Er wollte von vorne beginnen. Ohne Anna.
Anna musste irgendwie aus seinem Leben verschwinden.
***
Seit gefühlten drei Stunden wälzte sie sich im Bett mit der viel zu weichen Matratze herum und überlegte, ob sie nicht eine Schlaftablette nehmen sollte. Und vielleicht auch noch eine Kopfschmerztablette hinterher. Am besten gleich zwei, nachdem sie langsam rasende Kopfschmerzen bekam. Es war wie Migräne, aber das war Quatsch. Sie war nicht eine dieser hysterischen Frauen, die Migräneanfälle bekamen. Nein, sie nicht. Wahrscheinlich kamen die Kopfschmerzen von dem billigen Rotwein, den Dominik gekauft und von dem sie zwei Gläser getrunken hatte, nachdem er am späten Nachmittag wie eine Diva aus dem Haus gerannt war. Ein Rotweinkenner war er jedenfalls nicht, soviel stand für sie fest. Eigentlich war er überhaupt kein Kenner, egal auf welchem Gebiet, dachte Anna und schaute zum Wecker auf dem Nachttisch. Es war erst kurz nach zehn Uhr abends, also hatte sie gerade mal eine halbe Stunde geschlafen beziehungsweise versucht, Ruhe zu finden. Sie wollte gerade aufstehen, als sie ein Geräusch hörte. Es war ein Rascheln, das vom Dach zu kommen schien. Oder kam es aus der Wand neben dem Bett? Aus Dominiks Schlafzimmer konnte es nicht kommen, denn das Badezimmer lag dazwischen. Ratsch. Ratsch. Ratsch. Was war das nur? Sie setzte sich im Bett aufrecht und knipste die Nachttischlampe an. Gab es hier Ratten oder Mäuse im Gebälk? Gewundert hätte sie das nicht, so verkommen, wie diese Bruchbude war. Sie hätte es Dominik nie überlassen dürfen, die Urlaubsunterkunft in England auszusuchen. Aber nach der dummen Geschichte vor ein paar Monaten wäre es nicht gut gewesen, ihm zu widersprechen, als er auf ihren Vorschlag eingegangen war und gesagt hatte, er würde für sie beide ein Cottage in Cornwall suchen. Und alles nur, weil sie die verdammte Hotelrechnung in ihrer Kostümjacke vergessen hatte! Andernfalls hätte Dominik nie von ihrem kleinen Abenteuer erfahren. Ein kleines, aber lustvolles Abenteuer, dachte sie jetzt und lächelte. Aber war es das hier wert gewesen?
Da! Schon wieder! Kratz, kratz, kratz. Was ist das nur? Verdammt! Sie stand auf, öffnete die Tür und lief zu Dominik ins Schlafzimmer, ohne sich darum zu kümmern, ob er schlief oder nicht. Erbarmungslos knipste sie das Licht an.
„Dominik, wach auf! Da ist irgendetwas auf dem Dach!“. Wahrscheinlich hat er sich wieder Stöpsel in die Ohren gestopft, um sein eigenes Schnarchen nicht hören zu müssen, dachte sie und rüttelte so lange an ihm, bis er endlich wach wurde.
„Was ist?“, fragte er schlaftrunken und hielt sich eine Hand vor die Augen, weil ihn das Licht der Deckenlampe blendete.
„Auf dem Dach ist irgendetwas, ich höre die ganze Zeit so komische Kratzgeräusche. Steh gefälligst auf und sieh nach!“
Er schaute sie verschlafen an und setzte sich im Bett auf, konnte aber nichts hören, also ließ er sich wieder auf sein Kissen fallen. „Anna, du hast schlecht geträumt“, nuschelte er. „Geh wieder ins Bett, und mach das Licht aus.“ Dann fiel er sofort wieder in tiefen Schlaf.
Nein, sie hatte nicht geträumt und bildete sich die Geräusche auch nicht ein. Typisch für Dominik, wenn etwas unbequem ist, zieht er den Schwanz ein, dachte sie und warf einen letzten giftigen Blick auf ihn. Es kümmerte sie auch nicht, dass die Tür laut knarrte, als sie sie ins Schloss fallen ließ. Ihr war es egal, ob er wieder wach wurde. Sie konnte ja auch nicht schlafen. Vielleicht sollte sie eine Tasse Tee trinken, und nach einer Zigarette war ihr auch.
Auf dem Weg nach unten in die Küche hörte sie erneut Geräusche. Diesmal kamen sie jedoch nicht vom Dach, sondern von draußen. Dennoch traute sie sich nicht, in der Küche Licht zu machen, aus Angst, irgendetwas Schreckliches zu entdecken. Vielleicht war da eine riesige Ratte oder – noch schlimmer – ein Einbrecher. Aber sie musste auch gar nicht das Licht anmachen, denn in der Küche war es auch so hell genug. Der Mond warf sein kaltes weißes Licht durchs Fenster und beschien den Esstisch und die Wand, an der eine altmodische Küchenuhr tickte. Auf einmal musste sie daran denken, wie sie sich immer über Filmszenen aufregte, in denen ein Protagonist durch die Zimmer eines Hauses rannte, ohne Licht zu machen, und laufend „Wer ist da?“ rief. Kein normaler Mensch tat so etwas. Also wollte sie nicht genauso blöd sein und knipste die Neonröhre unter einem der Küchenschränke an. Jetzt konnte sie genau sehen, dass in der Küche nichts Schreckliches zu entdecken war, und setzte Teewasser auf. Hoffentlich hatte Dominik überhaupt daran gedacht, im Supermarkt Tee für sie zu kaufen. Natürlich nicht! Also blieb ihr nichts anderes übrig, als alle Küchenschränke zu durchwühlen, in denen Restbestände von Lebensmitteln lagerten, die Vormieter des Cottage zurückgelassen hatten. Nudeln, Pulverkaffee, Salz und andere Gewürze, sogar eine Flasche mit ranzigem Öl und eine mit Essig waren dabei. Endlich fand sie eine angebrochene Packung Tee. Leider waren es nur Teebeutel. Besser als nichts, dachte sie und stellte den Wasserkocher an, um sich gleich danach eine Zigarette anzuzünden und an den Küchentisch zu setzen.
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