Er musste dies gleich bemerkt haben, denn er lockerte daraufhin seine Hand sofort.
„Wer seid Ihr? Und woher kommt Ihr?“
Das waren zwei Fragen auf einmal und meiner Meinung nach direkt zu viele. Sein nahes Herantreten flößte mir Angst ein. Immer noch wie gelähmt, starrte ich ihn an. Mein Herz raste. Er musste mein innerliches Zittern genau spüren.
„Seid Ihr stumm?“
Der andere ältere Mann war hinzugekommen, mischte sich dazwischen und musterte mich unverhohlen abweisend, als sei ich eine Aussätzige. Wäre meine Zeit auf meiner Seite gewesen, hätte ich ihm meinen Standpunkt dominant deutlich nahegebracht, so aber musste ich mir wohl oder übel Emanzipation aus dem Kopfe schlagen, denn es hätte mich unter Umständen mein Leben gekostet.
„Ich ... äh ...“ Panik stieg in mir auf. Was sollte ich ihnen sagen, woher ich kam? Siedend heiß überlegte ich in Sekunden, welche Städte es vermutlich hier gab, oder besser gesagt, welche es noch nicht gab. Ich glaubte oder hoffte immer noch, dass wir uns an dem Ort in der Nähe der Universität Bostons befanden, wenn auch die Landschaft nicht besiedelt war. Wer wusste schon, wie viele Jahre wir „gereist“ waren?
„Ich glaube, ich bin…äh… gestürzt. Ich kann mich an nichts erinnern. Können… könnt Ihr mir helfen?“
Diese angewandte Grammatik klang fremd in meinen Ohren. Ich hielt es für das Beste, auf diese Art jeglichen weiteren Fragen aus dem Wege zu gehen.
Der jüngere Mann, der mich noch immer festhielt, als befürchte er, ich könne wieder umfallen, sprach mich erneut an.
„Seid Ihr verletzt?“
Ich schluckte hart, während der Ältere amüsiert laut lachte. Endlich kamen auch die anderen beiden und ich war unendlich dankbar um die Tatsache, dass es sich um zwei jüngere Frauen handelte. Ich war umringt von fremden Menschen, die auch noch einer womöglich früheren Zeitepoche angehörten. Nie im Leben hatte ich mich so überfordert gefühlt.
„Lass sie endlich in Frieden, Murray, und hör auf, sie zu verspotten. Du siehst doch, in welcher Verfassung sie ist!“
Der Mann neben mir musste mich loslassen, weil die junge Frau eine Decke um mich hüllte. Mir fiel erst jetzt auf, dass ich fror. Dankbar nickte ich in ihre Richtung. Auf unerklärliche Weise herrschte sofort eine stumme Gemeinsamkeit zwischen uns Frauen.
Murray wandte sich immer noch skeptisch ab.
„Beobachte den Waldrand. Ich traue dieser Frau nicht, Adam! Du gehst hinter ihr! Wir nehmen sie mit, so desorientiert kann man sie ja nicht laufen lassen und so mager, wie sie aussieht, würde sie sogar ein hungriger Bär ablehnen!“
Sein Gesagtes schien eisernes Gesetz. Ich nahm an, dass er als Ältester die Führung dieser Truppe übernahm.
Adam war der, der neben mir stand, und ich hatte erst jetzt, nachdem ich den ersten Schock überwunden hatte, Gelegenheit, ihn genauer zu betrachten. Er war mittelgroß und hätte sicherlich aufgrund seiner ausstrahlenden Kraft in die Schwergewichtsklasse des Boxsportes gepasst, im Gegensatz zu diesem Murray, der wesentlich kleiner aussah jedoch einem bulligen Stier in keiner Weise nachstand.
Adams Haar war pechschwarz und sehr lang. Er trug es zusammengebunden im Nacken, während Murrays Schopf kurz frisiert und bereits von silbernen Strähnen durchzogen war. Ich schätzte die beiden auf einen Altersunterschied von circa fünfundzwanzig Jahren.
Ich versuchte, an ihrer Kleidung eine Zeitepoche ausmachen zu können, und ich stellte mit Entsetzen fest, dass dieser Murray dies offensichtlich auch tat. Seine Blicke schienen durch die Decke hindurchzugehen, ich spürte sie förmlich auf meinem Leibe. Mein Instinkt sagte mir, dass dieser Mann schwierig werden konnte und ich hatte mich immer auf meine innere Stimme verlassen können. Ich betete schon jetzt, nie mit ihm allein sein zu müssen, aber woher sollte ich wissen, was die Zukunft für mich bereithielt? Ich zog die Decke enger um mich, was ihn zu einem Kopfschüttteln verleitete. Sein Gebiss war sehr schadhaft, wenn er überhaupt noch über nur einen einzigen gesunden Zahn in seinem Munde verfügte.
Die junge Frau neben mir schritt zu den anderen zurück und unsere Karawane setzte sich wieder in Gang. Sie waren nur eine Person mehr als meine Studenten und ich verfluchte mich selbst. Hatte ich sinnvoll gehandelt? War es wirklich besser gewesen, allein vorzugehen? Während ich an diesen schwerwiegenden Fragen nagte, musste ich Lori und Kiefer ihrem Schicksal überlassen, aber hatte ich dadurch bedingt, dass ich nun hier festhing, die besseren Karten gezogen?
Ich spürte die bohrenden Blicke meiner beiden Zeitgenossen im Rücken. Ich bildete mir ein, ihre Angst genau zu empfangen. Ich war hier und sie waren schon jetzt weit weg für mich. Es gab nur den einen Unterschied, dass ich allem ausgeliefert war, während sie verborgen im Gebüsch kauerten. Ich war allein mit meiner Angst und es war meine Endscheidung gewesen, vorauszugehen. Eine schreckliche Realität, auch wenn sie mir nicht gefiel!
Er saß wie gelähmt in dem dichten Geäst. Es war das erste Mal in seinem Leben, dass er nicht zu handeln wusste. Hautnah an sich spürte er Lori und er bildete sich ein, ihr Zittern genau zu bemerken, ja sogar ihren beschleunigten Herzschlag zu hören, und er war der Überzeugung, dass sein Herz kaum langsamer schlug. Er blickte seiner Lehrerin nach. So sehr er sich auch bemühte oder so sehr er sich wünschte, in einem Traum gefangen zu sein, desto mehr wurde er sich der nüchternen Wahrheit bewusst, die ihn gefangen hielt. Er vermutete, dass Lori sich zu Tode fürchtete, aber er konnte ihr in dieser Situation keine rechte Hilfestellung geben, da er selbst einen Rat dringend nötig gehabt hätte.
Seine Beine brannten, da er in Hockstellung verharrte, deshalb ließ er sich vorsichtig leise nach hinten gleiten, um dem übermächtigen Kribbeln ein Ende setzen zu können. Diese Bewegung verleitete Lori zu einem ersten geflüsterten Denkanstoß.
„Was machen wir um Himmels Willen nun, Kiefer?“
Er gab keine Antwort, weil er keine auf Lager hatte.
„Meinst du, sie kommt wieder zurück?“
Er drehte sich zu ihr um und der Blick, welchen sie ihm zuwarf, änderte in Sekundenschnelle seine innere Abwehrhaltung. Es würde nichts helfen, wenn er ihre gemeinsame Unruhe noch steigerte, indem er ihr unpassende Antworten zuwarf, die sie nicht hören wollte.
„Ich hoffe es, ernsthaft, Lori!“
Er rieb sich seine Handflächen. Die Gelenke taten ihm weh, seit sie hier angekommen waren, überhaupt schien ihm jeder einzelne Knochen zu schmerzen. Er war froh, dass die Übelkeit verflogen war, die ihn urplötzlich überkommen hatte.
„Verdammt! Eigentlich wollte ich heute gar nicht zur Lesung gehen. Ich hätte einen wichtigen Arzttermin gehabt.“ Lori murmelte unentwegt vor sich hin, während er die weiterwandernde Gruppe von unbekannten Menschen aus den Augen bereits verloren hatte.
„Du bist aber gegangen, Lori, und nun sitzt du genauso ahnungslos hier, wie Miss Clerence und ich. Du willst dir doch wohl jetzt keine Gedanken über deine frühmorgendlichen, eigentlich beabsichtigten Vorhaben machen, oder?“
Er brach ab und beobachtete stattdessen stumm, wie sie auf Knien schleppend aus dem Gebüsch kroch. Allem Anschein nach hatte sie ähnliche Schmerzen in den Gelenken wie er selbst. Ihr Haar stand wirr in alle Richtungen und behinderte ihr Sehfeld enorm. Immer wieder strich sie sich mit der Hand einzelne Strähnen fort und bemerkte gar nicht, wie sehr sie damit ihr Gesicht verschmutzte. Als sie stand, sah sie sich irritiert um.
„Professor Vibelle, sind Sie da?“
Ihre Stimme war dünn, unsicher, bis sie schließlich lauter und mutiger wurde.
„Professor? So sagen Sie doch etwas! Hören Sie auf mit diesem Versteckspiel. Das ist nicht mehr lustig, hören Sie?“
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