Er hielt mir eine braune Papiertüte entgegen, die ich verwirrt annahm, um hinein zu atmen. Zwar war die Übelkeit immer noch da, aber der alte Trick, vor einer Ohnmacht zu fliehen, half wenigstens. Als ich endlich aufsah, entdeckte ich Lori zu meiner Linken neben mir auf dem Boden liegend. Mein Herz setzte einen Schlag lang aus, weil ich in der Annahme war, sie sei tot. Sie sah sehr blass aus. Ihr langes, glattes Haar umrahmte ihr Gesicht wie ein übergroßer Fächer. Ihr Körper schien schlaff, doch ihre flachen, aber regelmäßigen Atemzüge überzeugten mich dann schließlich vom Gegenteil. Mechanisch griff ich nach ihrem Handgelenk. Ich musste sie irgendwie wach bekommen.
„Das habe ich auch schon versucht!“
Kiefers Aussage erinnerte mich an seine Gegenwart. Allem Anschein nach schien er mich intensiv beobachtet zu haben.
„Bei Ihnen hat es auch länger gedauert. Sie wird vermutlich gleich aufwachen?“
Seine ruhigen Worte halfen mir in keiner Hinsicht weiter. Unwillkürlich blickte ich auf meine Uhr und stellte mit Entsetzen fest, dass sie kaputt war. Das Glas war zerbrochen und das mechanische Uhrwerk war stehen geblieben. Der Sekundenzeiger war verbogen. Vorwurfsvoll zeigte er gen Himmel.
„Wo, wo sind wir, Kiefer?“
Er saß neben mir: “Ich weiß es nicht!“
Hastig versuchte ich aufzustehen. Der jedoch eher wackelige Versuch misslang mir. Nervös rieb ich die Handflächen aneinander, um Schmutzteilchen zu entfernen. Kiefer machte keinen Versuch mir aufzuhelfen. Es störte mich, aber ich behielt einen Kommentar der Empörung für mich. Erst seine nächstfolgenden Sätze ließen eine minimale Aufklärung zu.
„Ich bin schon ein bisschen länger wach als Sie und habe versucht, die Gegend zu erkunden. Keine Ahnung, wo wir uns befinden, aber ich habe das dumme Gefühl, dass wir gereist sind ...“
Ich hatte Angst, über sein Gesagtes genauer nachzudenken. Es flößte mir Unbehagen ein. Nicht zu wissen, was vorgefallen war und das bei einer kalkulierenden Persönlichkeit wie mir, machte mich nervös.
„Mit gereist “, ich sprach es aus wie ein lästiges Übel, “mit gereist meinst du ...“
Er nickte, ohne meine Frage abzuwarten.
„Bist du dir sicher?“
„Ich denke schon.“
„Wie kannst du nur so ruhig bleiben, wenn du es schon weißt?“, fuhr ich ihn unbeherrscht an.
Er erhob sich. Im Gegensatz zu mir schien er es bereits besser zu beherrschen, denn ich hatte immer noch das Gefühl, nie wieder richtig laufen zu können.
„Weil es nun mal nichts an der Tatsache ändert, Miss Clerence! Wir befinden uns hier in einer Gegend, die ich nicht kenne und ich weiß mit ziemlicher Sicherheit, dass wir uns eben noch in einem Hörsaal einer Universität befunden haben!“
Verärgert setzte ich mich auf. Ich war sehr hilflos: “Du hörst dich schon ähnlich selbstherrlich an wie Professor Vibelle!“
Noch während ich seinen Namen aussprach, wurde mir bewusst, dass er nicht Vorort war. Warum fehlte er? Hatte er nicht diesen verfluchten Kreis mit seinen Händen geschlossen? Und war er es nicht gewesen, der uns all das hier eingebrockt hatte?
Kiefer schien meine Gedanken genau verfolgen zu können.
„Ich habe ihn nirgendwo entdeckt. Er ist verschwunden!“
Ich überlegte, ob er überhaupt anwesend sein konnte, ob er nicht unser Medium gewesen war und aus welchen Gründen er uns hierher befördert hatte. Mein Gott, welchen Gedanken hing ich nach? Waren wir tatsächlich Opfer einer Zeitreise geworden? Der Fakt, dass ich nicht allein war, hielt mich davon ab zu glauben, dass dies hier mit rechten Dingen zuging. Ich träumte nicht. Es war ein Alptraum, den ich zu unterdrücken versuchte. Es war ein Alptraum, welchen Kiefer und Lori mir mit ihrer Anwesenheit bestätigten, dass er noch nicht so schnell vorüber sein würde. Hatte er mich damit gemeint, keine Angst haben zu müssen? Panik dehnte sich in mir aus und wenn ich mich nicht zusammenriss, würde ich gleich in Tränen ausbrechen.
„Hören Sie, ich hatte schon länger Gelegenheit als Sie, mir Gedanken über diese Situation zu machen. Das Schlimmste daran ist die Unwissenheit, der wir ausgeliefert sind. Wir müssen das Beste für uns alle daraus machen. Es hat keinen Sinn, in Panik zu verfallen. Wir müssen einen kühlen Kopf bewahren!“
Kiefers Worte waren wahr. Anscheinend war er erwachsener, als ich ihn eingeschätzt hatte. Insgeheim bewunderte ich ihn für seinen Mut. Wahrscheinlich war es wirklich das Beste, abzuwarten. Herauszufinden, wo wir uns nun befanden, an welchem Ort und in welcher Zeit, denn einer Sache war ich mir hundert Prozent sicher, wir waren nicht mehr in der Universität, in diesem verdammten Hörsaal, an diesem verdammten Lehrerpult!
Lori kam plötzlich zu sich und ich hatte starkes Mitleid schon jetzt mit ihr, weil sie noch dem ausgeliefert war, was uns bereits beschlichen und ergriffen hatte.
Erstaunlicherweise blieb sie relativ gefasst. Ihre Augen musterten unsicher die Gegend um uns herum. Ich konnte ihrer Gesichtsmimik absolut keine Regung entnehmen und ich hatte das Gefühl, dass meine Nerven blanker lagen als ihre.
Kiefer und ich warteten in stummem Einverständnis ihre Desorientierung ab. Es hatte keinen Zweck, sie direkt mit der ganzen Wahrheit zu konfrontieren. Es kam mir so vor, als ob er und ich uns sehr gut auch ohne Worte verstanden, eine Tatsache, die ich mir mit manch anderem ebenfalls wünschte.
„Wir sind tatsächlich gereist !“ Loris Satz war nicht als Frage gemeint.
„Es sieht ganz so aus“, tastete ich mich vor.
„Das ist ganz offensichtlich, denn eben waren wir noch im Physikunterricht. Ich begreife es nicht!“ Ihre Stimme klang trocken und fassungslos und wieder konnte man ihr nicht widersprechen.
Während wir unschlüssig und überfordert dort beisammensaßen, versuchte ich erneut, mich zu erheben und dieses Mal hatte ich Glück. Völlig überflüssig strich ich mir den Rock glatt. Die Falten, die er mittlerweile aufwies, waren kaum mehr mit dem heißesten Bügeleisen in Form zu bringen. Langsam musterte ich die Umgebung, in der wir uns befanden. Es war ein Waldstück, Laubbäume umgaben uns. Unter normalen Umständen hätte ich diesen Ort sogar wunderschön gefunden, nicht aber in dieser Situation.
„Welche Richtung bist du schon gegangen?“
Kiefer wusste, dass ich ihn ansprach.
„Südlich, ein paar hundert Meter weiter endet der Wald. Aber es gibt keinen Weg. Nur endlose Hügelketten. Ich konnte nichts erkennen, was auch nur annähernd mit einem Gebäude oder Menschen zu tun hat!“
Ich verstand ihn. Das wäre auch meine erste zu stillende Neugier gewesen. Während ich dort stand, schoss mir urplötzlich eine Erinnerung durch den Kopf.
„Von welcher Zeit hast du gesprochen, als es um diese schlimme Sache auf dem Footballfeld der Uni ging?“
Meine Frage war an Lori gerichtet.
Sie sah verwirrt in meine Richtung, aber Kiefer kam ihr zu Hilfe: „Es war dreißig Jahre zurück. Meinen Sie, es hängt mit der Dauer seiner Berührung zusammen, wie weit wir gereist sind?“
Sein Scharfsinn war enorm. Noch bevor ich antworten konnte, mischte Lori sich jedoch dazwischen: “Ich kann es immer noch nicht fassen! Wie in Gottes Namen hat er das angestellt?“
Ich konnte ihr ansehen, in welchem Schock sie sich befand, wusste ihr jedoch keine passende Hilfestellung zu geben. Kiefer und ich standen vor ihr und waren beide zu überwältigt, um eine passende Antwort zu geben.
Lori wiederholte sich laut: „Ich will wissen, wie er das angestellt hat, verdammt!“
„Lori, wenn wir das wüssten, würden wir uns wohl so schnell wie möglich zurück katapultieren, das kannst du mir glauben! Wir sind von einem Hörsaal aus in einem Gott verlassenen Wald gelandet. Was meinst du, wie er das angestellt haben wird, he?“
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