„Ich schätze Ihre Skepsis, Miss Clerence, aber sehen Sie hier irgendwo Kreuze, Kerzen oder Pentagramme?“
Ich holte tief Luft: “Natürlich nicht, aber wenn Sie jetzt von uns verlangen, dass wir uns an den Händen fassen sollen, könnte ich annehmen, dass Sie Utensilien wie diese unter dem Pult versteckt halten.“
Unsere Blicke kreuzten sich intensiv. Es war, als könne er all meine Gedanken innerhalb von Sekunden lesen, und ich fühlte mich ertappt von Überlegungen, die ich wahrscheinlich noch gar nicht gemacht hatte, die er jedoch bereits zu interpretieren vermochte.
„Ich möchte lediglich ein physikalisches Experiment durchführen, welches die allgemeine Infragestellung der Relativitätstheorie beantwortet, das ist alles, Miss Clerence. Ich habe dazu geforscht. Es steht Ihnen offen zu, jederzeit auszusteigen oder einen anderen an Ihre Stelle treten zu lassen. Allerdings wäre mir gerade an Ihrer Mitarbeit gelegen, da Sie als Lehrerin eine Art Vorbildfunktion übernehmen könnten!“
Seine suggestive Wortwahl hallte in meinen Ohren wie eine Warnung, aber dennoch neigte ich gefühlsmäßig eher zu einer bereitwilligen Teilnahme, da ich mir keine Angst eingestehen wollte.
Also stob ich verlegen Luft durch die Nase, was wohl meine Einwilligung widerspiegelte?
„Miss Armstrong, könnten Sie mir sagen, was Sie, wenn Sie aus dem Fenster schauen, draußen sehen?“
Während Professor Vibelle diese Frage stellte, haftete sein Blick immer noch auf mir. Eine Tatsache, die mir Unbehagen einflößte, zumal ich abermals scharf überlegte, woher er nun auch noch Loris Namen wusste.
„Oh, ich sehe ein Footballfeld. Ein leeres Footballfeld. Es spielt niemand dort, vermutlich weil es heute regnet.“
Natürlich folgte der ganze Kurs ihrem Blick nach draußen, obwohl jeder um diese Tatsache bereits wusste.
„Das ist gut beobachtet und nun gebe ich Ihnen allen ein Beispiel wie es wäre, wenn wir tatsächlich zeitgereist wären.“
Seine Hand schnellte plötzlich über das Pult hinweg zu ihrer. Ein gleißendes Licht zuckte ziellos auf. Eine Glühbirne in unserer Nähe, die gar nicht in Betrieb gewesen war, implodierte mit einem lauten Knall in Abertausende von Glasscherben. Ein stechender Geruch wie Schwefel verbreitete sich, wovon niemand wusste, woher er plötzlich kommen konnte. Ich hatte Gefäße, die Chemikalien dieser Art enthielten, nicht in Pultnähe gesehen, jedoch hatte ich einen seltsamen Apparat in seiner Kitteltasche entdeckt, der mir zuvor nicht aufgefallen war. Ich erschrak über dieses unerwartete Ereignis und warf meinen Kopf schützend zur Seite. Meine Hände befanden sich noch abwehrend in der Luft, als er sie ein zweites Mal fragte, mich jedoch dabei intensiv beobachtete.
„Was sehen Sie jetzt?“
Lori Armstrong stand plötzlich wie gelähmt. Bis jetzt war mir ein solches Verhalten an ihr nicht aufgefallen, da sie stets die Unerschütterte spielte. Wir alle waren nur Sekunden geblendet und erschrocken gewesen. Jetzt ging ihr Atem heftig und seltsamerweise strahlte sie plötzlich Angst aus. Ich wusste nicht, ob noch jemand außer mir die winzigen Schweißperlen auf ihrer Stirn bemerkt hatte. Ihre Augen waren geschlossen, die Lider zuckten, ihre Nasenlöcher leicht geweitet.
„Öffnen Sie die Augen und sehen Sie aus dem Fenster. Es passiert Ihnen nichts. Sagen Sie mir nur, was Sie da draußen jetzt sehen.“
Ich hatte nicht den Eindruck, dass Lori jemals wieder bereit war, seiner Bitte aus Angst, was sie zu sehen bekam, nachkommen würde und Kiefer schien das Gleiche zu denken. Die innere Unruhe, die sie plötzlich leicht erschauern ließ, steigerte sich zu einem heftigen Zitteranfall. Sie kniff verbissen die Augen zu und schluchzte plötzlich. Fast zeitgleich legten Kiefer und ich unsere Hände auf ihre, um ihr die Sicherheit zu gewährleisten, die ihr vermutlich in diesem Moment fehlte. Die Berührungen ließen sie die Augen wieder öffnen und ich erschrak, als ich ihrem Blick begegnete. Es kam mir vor, als ob sie in der Zwischenzeit ihre Augenfarbe gewechselt hätte. Ich sah sie frontal an, aber sie blickte durch mich hindurch Richtung Fenster.
„Ich sehe ein Footballfeld, aber es befinden sich Menschenmassen darauf. Einen Moment, ein Spieler liegt am Boden. Ich glaube, er ist tot! Die Spielanzeige schreibt das Jahr 1965!“
Der plötzliche Sprung von so vielen Jahren machte mir Angst.
„Hören Sie auf! Stoppen Sie sofort dieses Experiment, Professor Vibelle!“ Während meine messerscharf fordernde Stimme die Stille durchschnitt und alle Anwesenden zusammenzuckten, blieb Lori Armstrong wie hypnotisiert stehen.
Ich hielt immer noch ihre Hand fest, wahrscheinlich um mich selbst zu trösten, oder ich brauchte sie als Unterstützung, um zu wissen, dass dies kein Spiel mehr war!
Professor Vibelle antwortete mir nicht, aber ein Satz aus den hinteren Reihen bestätigte mir mein bereits vorhandenes Wissen.
„Das war vor dreißig Jahren. Es ist wahr! Mein Vater hat mir davon erzählt. Ein Footballspieler hatte einen plötzlichen Herztod. Er brach auf dem Spielfeld zusammen. Eine wahre Begebenheit, die jeder hier an der Universität kennt, die aber nicht gerade gute Geschichte schreibt!“
Meine Lungen füllten sich mit Luft, um lautstarken Protest anzustreben, aber Manitu Vibelles unvermutete, plötzliche Berührung hielt mich von weiterem Handeln ab. Noch bevor ich nachdenken konnte, nahm ich seine vertraulich flüsternden Worte wahr, die offensichtlich nur mir allein galten.
„Ich möchte alles das erklären können. Habe keine Angst! Ich möchte, dass du mitkommst.“
Er sah allein mich an, während er sowohl nach Kiefer als auch in meine Richtung gegriffen hatte und somit der Kreis geschlossen war. Lautes Getöse umgab uns abermals und ich war versucht, meine Ohren vor diesem Lärm zu schützen. Es gelang mir jedoch nicht, da meine Hände in der von ihm und Kiefer lagen. Der stechende Geruch kam zurück und grell helles Licht durchflutete meinen Kopf, wie Blitze bei einem heftigen Gewitter. Danach umgab mich eine tiefe, stille Schwärze, die mich in eine Art Spirale zu ziehen schien. Der Sog war so stark, dass mir ein undefinierbarer Druck auf dem Brustkorb kurzfristig die Luft zum Atmen raubte. Es hing mit Schmerzen zusammen. Ich tauchte vorerst aus dieser absoluten Dunkelheit nicht auf, verweilte in ihr und ängstigte mich zu Tode. Danach wurde meine Atmung wieder leichter und ich gierte nach Frischluft wie ein Ertrinkender. Endlich löste ein lichtreiches Spektrum die Dunkelheit, die mich umgab, ab. Auch ließ der Sog endlich nach und ich fiel. Der Schwindel in meinem Kopf erlaubte mir keine Orientierung. Es war schließlich die Angst, die mich meine Augen wieder öffnen ließ. Ich fühlte mich körperlich schlecht, das Bedürfnis, mich zu übergeben, wuchs immer mehr. Ich rang nach Luft wie ein Asthmakranker und wusste, dass ich dabei war zu hyperventilieren, wenn ich nicht augenblicklich an meinen Verstand appellierte. Als ich die Augen öffnete, kreisten Bäume uns ein. Dichtes Dickicht zu meiner Rechten versperrte mir die Sicht auf das, was dahinter lag. Ich spürte weichen Waldboden unter mir. Ein Lufthauch streifte mein Gesicht und ich zitterte unwillkürlich. Die Bäume, die mich umgaben, waren endlos hoch und einseitig von Moos bewachsen. Dieser Ort sah eher paradiesisch aus, unter diesen Umständen jedoch stufte ich ihn in das Vorzimmer zur Hölle. Es war beängstigend still um mich, so als hätten sich sämtliche hier im Wald lebende Tiere aus Angst vor meinem urplötzlichen Auftauchen verkrochen.
Wo war ich? Was war geschehen? Lebte ich oder war ich tot? Mein Schädel drohte zu bersten. Unwillkürlich griff ich an meine Stirn. Ein Stöhnen entfuhr meiner Kehle, dann bemerkte ich eine Bewegung neben mir. Ich brauchte eine ganze Weile, um Kiefer zu erkennen.
„Hier, nehmen Sie das hier!“
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