Pete war aus sich herausgegangen, wie ihn der Freund seit der Katastrophe noch nicht gesehen hatte. In vielen Versammlungen und Diskussionen, beim Streikpostenstehen und in den Seemannsheimen hatte der Seemann ähnlich gesprochen, agitiert und argumentiert. Das war seine Idee, die er in ihren Grundzügen durchdacht und begriffen und der er sein Leben lang die Treue gehalten hatte. Bei all diesen Gelegenheiten war es ihm immer die beste Hilfe, aber doch eben nur Theorie gewesen. Etwas, das zwar bestimmt einmal kommen würde, früher kommen würde, wenn sie sich mehr anstrengten. Aber wann es geschehen würde, dass die Arbeitenden in Amerika an die Macht kämen, das hatte er nie sagen können. Jetzt hatte ihn ein Wirbelsturm in die Lage gebracht, die Theorie sofort in die Praxis umzusetzen. Ein Hurrikan hatte dafür gesorgt, dass die Chancen endlich einmal gleich standen, und Pete hätte nicht mehr leben wollen, hätten sie hier vor Knatchbull kapitulieren müssen.
Der Ingenieur war erregt und im Innern beschämt. Stets hatte er den kollegialen Matrosen in bester Erinnerung gehabt, und seine solidarische Haltung in Rio de Janeiro war der Beweis, dass ihr Freundschaftsbund nach fünf Jahren Trennung nichts von seiner Festigkeit eingebüßt hatte. Doch Sundström hatte wohl nie den ganzen Menschen Pete gesehen. Was er an Hawk als gutmütige Regung eingeschätzt, als instinktive Kameradschaftlichkeit gewertet hatte, war mehr, wurde getragen von einer Überzeugung. Er hatte ihn deswegen primitiver eingeschätzt als er war, weil der Seemann diese Überzeugung nie als leere Schablone handhabte. Pete war unpathetisch bis zur Schnoddrigkeit, und dieser scheinbare Widerspruch ergab sich aus der Tatsache, dass ihm die Weltanschauung in Fleisch und Blut übergegangen, der ganze Kerl aus einem Guss war. Bei diesen Gedanken durchrann den Ingenieur ein herzliches, ja ein brüderliches Gefühl, und er hätte den rauen Seebären umarmen mögen. Er wusste jetzt genau, ohne Pete hätte er sich früher oder später der Inseldiktatur des USIC-Präsidenten beugen müssen, aber mit Pete würden sie die Sieger bleiben. Es war die Wahrheit, als er vorhin sagte, wenn man das alles zu durchdenken beginne, fühle man sich wie ein Riese.
Nach einer Weile des Schweigens sagte Sundström: "Wenn der Knatchbull gewusst hätte, was er mit dem Ultimatum anrichtet. Er diktierte uns die Zeit zu, die wir brauchten, um zur Besinnung zu kommen. Vor lauter humanen Bemühungen für die andern haben wir uns keine Gedanken über die eigene Lage gemacht. Es ist schlimm, dass uns meistens der Gegner erst mit der Nase draufstuken muss, was wir zu tun haben."
"Darum Schluss mit der Gefühlsduselei", sagte Pete. "Entweder Knatchbull lenkt ein und es kommt sozusagen zu einem Waffenstillstand, oder er treibt es auf die Spitze, und wir müssen uns selbständig machen."
"Also zwei getrennte, feindliche Lager auf der Insel?"
"Ja. - Siehst du es anders?"
"Kaum. Aber ich denke, die erste Lösung wäre im Augenblick günstiger für uns."
"Selbstverständlich. Erstens müssen wir versuchen, die Munition sicherzustellen, zweitens brauchen wir die Schaluppe. Wir müssen für alle Fälle ein geheimes Lager anlegen, sonst sind wir bei einer Trennung Habenichtse."
"Das bedeutet ständige Nachtschichten in der nächsten Zeit."
"Ja, entweder auf der Schaluppe oder beim Transport vom Lager zum Versteck, wo wir alle notwendigen Dinge unterbringen müssen."
"Knatchbull wird es natürlich als Raub und Diebstahl hinstellen, falls er es irgendwann erfährt."
Pete lachte. "Nur dass wir es genau umgekehrt sehen. Er ist der Räuber. Dass die es kriegen, die es geschaffen haben, wird auch einmal in Amerika kommen. Wenn wir nun der Geschichte etwas vorgreifen, so ist das in Ordnung."
"Immerhin wäre mir gleich der offene Bruch lieber."
"Wir machen oft zu sehr mit dem Gefühl Politik, und zwar mit unserm guten Gefühl. Die Knatchbulls verstehen es leider meistens besser, das Gefühl auszuschalten und ihren kalten Verstand sprechen zu lassen."
Sundström lachte leise. "Dass du so sprichst, gefällt mir. Der Tod Wan-heis hat dich ordentlich wild gemacht."
"Das ist noch ein Punkt, warum es besser wäre, wenn es noch mal zum Waffenstillstand käme."
"Du machst mich gespannt."
"Ich sagte schon, Knatchbulls Gefolgschaft ist in sich nicht einheitlich."
"Du hoffst, ihm den einen oder andern abspenstig zu machen?"
"Du nicht?"
"Wenn ich's recht überlege, sollten wir's schaffen. Aber wen?"
"Ich möchte, dass du den Er oder die Sie zuerst nennst."
"Aha, Pete möchte eine Sie bekehren."
"Sind die Frauen weniger wert als die Männer?"
"Nein, hier ganz besonders nicht. Wenn ich mir zum Beispiel die Männer ..."
"Also los, nenne schon den Namen der Sie."
"Ich trau mich nicht. Du legst es nachher anders aus."
Pete kicherte. "Feigling. Dann schreib's auf einen Zettel. Ich mach' es ebenso, und die Chancen, sich zu blamieren, stehen gleich."
Sundström trennte einen Streifen vom Rand einer Zeitungsseite, schrieb einen Namen darauf, riss ein Stück davon ab und gab es Pete mit dem Bleistift. Der überlegte nicht lange und schrieb. Beide falteten die Zettel und tauschten sie aus.
Pete schmunzelte und entfaltete Sundströms Zettel. Nachdenklich las er den Namen, sah dem Freund forschend ins Gesicht und sagte: "Du hast ja Mut."
"Du aber auch."
"Wieso? Rose ist ein prima Kerl. Sie redet Knatchbull am wenigsten zu Munde. Das rechne ich ihr am höchsten an, weil sie ja sozusagen nur aus Gnade und Barmherzigkeit mit den Knatchbulls verkehren darf."
"Oder auf Grund der mutigen Haltung Ellen Knatchbulls."
"Gut, das ist die Grundlage. Aber Rose versucht sich dadurch keine Vorteile zu verschaffen."
"Und Ellen Knatchbull muss viel einstecken wegen ihrer unstandesgemäßen Freundschaft."
Pete wurde ironisch. "Wegen, dieser edlen Gesinnung hast du sie aufgeschrieben?"
Sundström blieb ernst. "Nicht nur deswegen. Aber es ist ein sympathischer Charakterzug von ihr."
"Trotzdem habt ihr euch fast immer befehdet, wohingegen dich die Rose anhimmelt."
"Tatsächlich?" Sundström tat, als hätte er das nie bemerkt. "Du hast natürlich recht, Pete, Rose Taylor hat bessere Voraussetzungen für einen Verbündeten. Aber - sie - sie ist wohl zu unkompliziert. Ellen Knatchbull reizt mich mehr. Sie merkt das und ist viel zu selbstbewusst, es sich widerstandslos gefallen zu lassen."
"Plausibel. Hoffentlich willst du dich damit nicht bloß selber ablenken, dass du und die Rose ..."
Zum ersten Mal entdeckte der Ingenieur im Gesicht seines Freundes einen Zug, den er nicht zu deuten wusste.
"Nanu, Pete, verliebt?"
Der Matrose ging auf den leichten Ton nicht ein. "Ist ja sinnlos. Ich ein hässlicher Nussknacker ohne Manieren; du, zehn Jahre jünger, blond, strahlend, mit Collegebildung, da muss sich ja solch ein Mädel verknallen."
Sundström war verblüfft. Versöhnlich hieb er dem Freund auf die Schulter. "Mensch, Pete, wir werden doch unsere Freundschaft durch so etwas nicht gefährden!"
Pete schüttelte die trübe Stimmung ab. "Hast recht. Manchmal kommt es einem so an. Jeder vernünftige Mensch sehnt sich nach einem guten Lebenskameraden. Und wenn man dann mal jemand gefunden hat, der einem ..."
"Sei mal still!" Sundström machte ein Zeichen mit der Hand und lauschte. Behände stand er auf, öffnete leise das Kabinenfenster und blickte aufs mondblinkende Wasser der Bucht. Pete war hinter ihn getreten. Deutlich erkannten sie die Silhouette der Schaluppe, die sich dem Wrack näherte. Zwei Männer ruderten, eine Frau steuerte.
"Wer ist die Frau?" flüsterte Sundström.
"Das kann nur Rose sein. Sie hat die Männer überredet, ihren heimlichen Helden zu retten."
"Rede nicht so frivol."
"Ich hab' dir doch gesagt, wie sympathisch du ihr bist."
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