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Grafische Gestaltung: Dorothea Löcker, Wien
Umschlagabbildung: © Howard Sochurek/
The LIFE Picture Collection via Getty Images
ISBN 978-3-7117-2100-6
eISBN 978-3-7117-5443-1
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Susanne Falk,geboren 1976 in Kappeln an der Schlei, promovierte 2008 im Fach Germanistik. Sie veröffentlichte mehrere Bücher im Rowohlt Verlag. Im Picus Verlag erschienen ihr Roman »Anatol studiert das Leben« und das Weihnachtsbuch »Fast ein Märchen« (2019). Sie verfasst außerdem Theaterstücke. www.susannefalk.net
SUSANNE FALK
ROMAN
PICUS VERLAG WIEN
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EPILOG
Johanna Neuendorff saß im Garten vor der Döblinger Villa und schaute ihrem Kind dabei zu, wie es an einem Stück Apfel erstickte, während sie mit dem Burgschauspieler Josef Meinrad Tee trank. Es war Ende Mai. Der Sommer lag schon schwer über dem Wiener Nobelbezirk und die Hitze stand zwischen den Rhododendrenbüschen. Sie zögerte zunächst, nicht lange, aber immerhin, bis sie sich schließlich dazu entschied, den Freund beim Deklamieren eins Nestroy-Textes zu unterbrechen und ihrer Tochter das Stück Apfel aus dem Hals zu holen. Dazu zog sie mit ihrer linken Hand das Kind an den Füßen aus dem Kinderwagen nach oben und schlug ihm mit der rechten kräftig auf den Rücken. Die kleine Lore würgte zuerst, spuckte dann, schrie und ballte schließlich, mit neuer Lebenskraft erfüllt, die kleinen Fäuste gegen ihre Mutter, die, daran bestand kein Zweifel, nicht ganz unschuldig an dem Vorfall war.
Weil das Kind nicht aufhören wollte, mit seinem Babygebrabbel den Vortrag des großen Burgtheatermimen und Freundes zu stören, hatte Johanna Neuendorff entschlossen zum Messer gegriffen und ein Stück von einem Apfel heruntergeschnitten, das sie ihrem Töchterchen in die kleine Hand drückte. Und es hatte nicht lang gedauert, bis die kleine Lore mit ihren zwei Zähnchen ein großes Stück vom Apfelschnitz abgebissen und sich daran verschluckt hatte. In der Folge sollte das dem Kind den Kosenamen »Schneewittchen« einbringen. Dies implizierte nicht zuletzt auch ein sehr besonderes Mutter-Tochter-Verhältnis. Josef Meinrad aber hatte während des Vorgangs mit großer Verwunderung dem Treiben der jungen Mutter zugesehen und war schließlich, nachdem alles vorbei war und das Kind wieder atmete, aufgesprungen und hatte ausgerufen: »Johanna, du Retterin!«
Das hatte Johanna Neuendorff gefallen, blendete es doch vollkommen die Tatsache aus, dass sie es gewesen war, die ihr Kind beinahe mittels eines Apfels umgebracht hatte. Später würde sie ihrer Tochter diese Szene noch oft beschreiben und stets mit den Worten enden: »So schenkte ich dir also an diesem Tag das Leben – zum zweiten Mal!«
Drei Jahre hatte sie ihm versprochen. Drei ganze Jahre sollte sie daheim verbringen und Kind und Villa hüten, als treu sorgende Ehefrau und liebende Mutter. Nun waren gerade etwas mehr als acht Monate vergangen und sie war kurz davor, mit dem Kopf gegen die Wand ihres adrett eingerichteten Ankleidezimmers zu rennen, das, ganz entgegen der aktuellen Mode, rot gestrichen war, weshalb die Blutflecken gar nicht mal so stark aufgefallen wären, selbst wenn sie ihren Schädel mit aller Wucht dagegengerammt hätte. Es war ein klassischer Fall von fehldekorierter Kulisse.
»Rot!«, sagte sie leise und schüttelte den Kopf über ihren eigenen Unwillen, sich in ihr pastellfarbenes Schicksal zu ergeben, auch wenn das zweifellos moderner gewesen wäre. Ihr Mann hatte sie ja zu einer rosafarbenen Tapete überreden wollen, aber sie hatte hartnäckig auf Rot bestanden, weil auch Julias Zimmer rot gewesen war und Shakespeares unglücklichster Teenager aller Zeiten ihre erste große Rolle. Das Rot erinnerte sie demnach an ihren ersten großen Triumph auf der Bühne und wenn ihr nicht bald etwas einfiel, wie sie dem Dasein als Ehefrau und Mutter entkommen konnte, würde es vielleicht ihr letzter großer Erfolg bleiben.
Nie hätte sie gedacht, dass man sich als Mutter so entsetzlich langweilen würde. Gut, das Kind war herzig. Mit seinen dicken Wangerln und den blonden Lockerln hätte man es problemlos auf jedem Kirchenaltar platzieren können, als lebenden Putto. Und es war ja nicht so, dass sie das Kind nicht liebte. Das tat sie sehr wohl, mit der aufrichtigen Zuneigung, die man auch einem geliebten Haustier entgegenbrachte. Dennoch zog sie aus dem immer gleichen Ablauf von füttern, wickeln, spazieren gehen und Lieder singen keinerlei Befriedigung. Am ehesten sagte ihr noch der morgendliche Spaziergang zu, wenn sie ihren eleganten blau-weißen Kinderwagen zwischen den schönen großen Villen Döblings hindurchschob und sich vorstellte, wie die Nachbarn sie heimlich hinter ihren Vorhängen verborgen anglotzten. Die schöne Frau Neuendorff, die Burgschauspielerin, fährt wieder ihr Kind spazieren, würden sie flüstern und ihr angesichts ihrer mondänen Ausstrahlung, des modernen Wagens und auch ein klein wenig des hübschen Kindes wegen voller Neid nachschauen. So dachte sie zumindest, bis sie eines frühsommerlichen Tages einem der Nachbarn begegnete und der sie ansprach. So ein süßes Kind, ach nein, wirklich, was für ein herziges Mäderl das doch war! Da haben Sie aber Glück, dass Sie auf so ein nettes Kind aufpassen dürfen.
»Ich bin die Mutter, nicht das Kindermädchen!«
Sie hatte den Wagen grußlos weitergeschoben. Eine Schauspielerin erkannte man daran, dass sie auf der Bühne stand. Und ein Kindermädchen erkannte man daran, dass es in einer reichen Gegend morgens um zehn einen teuren Kinderwagen durch die Straßen schob, während die Mutter einen Friseurtermin wahrnahm oder einkaufte oder, Gott bewahre, in der Kanzlei ihres Mannes mitarbeitete. Was diese Mütter hier eben so taten. Wieso nur hatte sie zugestimmt, sich die ersten drei Jahre selbst um das Kind zu kümmern? Es war ein großer Fehler gewesen nachzugeben. Und nun war sie das Kindermädchen.
»Du bist ihre Mutter!«, hatte er gesagt, ganz so, als müsste man sie daran erinnern.
»Das weiß ich«, presste sie zwischen ihren Lippen hervor. »Aber ich bin auch Schauspielerin.«
»Und meine Ehefrau!«, fügte er hinzu. »Erwartest du etwa, dass ich mich um das Kind kümmere?«
»Das wäre doch mal was!«, rief Johanna Neuendorff aus, wohl wissend, wie unrealistisch die Vorstellung war, ihr Mann könnte sich mehr in die Kindererziehung ihrer Tochter einbringen. Sein Part bestand darin, abends aus dem Büro heimzukommen, das Kind etwa fünf Minuten lang auf den Knien zu schaukeln, dann eine kurze Runde mit ihr auf dem Arm durch den Garten zu drehen, was ebenfalls fünf Minuten in Anspruch nahm, und die kleine Lore zu guter Letzt mit bereits fertig gekochtem und serviertem Brei zu füttern, was, weil das Töchterchen eine gute Esserin war, oft auch schon nach fünf Minuten erledigt war. Alles in allem beschränkte sich seine Vaterzeit demnach auf eine Viertelstunde pro Tag. Der Rest war Johannas Sache.
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