Der strahlende Sonnenschein fällt in die letzten Meter des hässlichen Kolonnadengangs.
Iris fragt etwas verwirrt: »Kann denn ein Junge von zehn oder elf Jahren überhaupt schon eine Erektion haben?«
Wolfgang, typisch Oberlehrer: » Unter Umständen kann sogar schon der Penis eines Säugling sich aufrichten, habe ich mal gelesen. Aber natürlich kommt es erst mit der Pubertät zu Ejakulationen. Vorher übt der Körper nur ein wenig. Noch völlig ohne sexuellen Hintergedanken und meistens im Schlaf.«
Iris: »Ach ja.«
Wolfgang: »Richtiger Sex würde ein Kind in dem Alter vor allen Dingen seelisch völlig überfordern. Darum ist er zu Recht verboten.«
Iris: »Schon gut.«
Wolfgang: »Aber rechtzeitige Aufklärung und der Sexualkundeunterricht sind schon wichtig. Damit ein
Kind nicht in Panik verfällt, nur weil während der Pubertät mit seinem Körper etwas passiert, von dem er nicht vorgewarnt wurde. Stellt euch nur vor, ein Mädchen wüsste nicht, dass irgendwann die Blutung einsetzt.« Ich: »Es reicht, Wolfgang! Iris wollte doch nur wissen, ob ein Kind schon vor der Pubertät eine Erektion bekommen kann. Mehr nicht!«
Wolfgang zögernd: »Wie Björn geraten manche Jungs schon mit zehn Jahren in die Pubertät.«
Björn protestiert: »Ich war da schon etwas älter!«
Aber es scheint doch noch mehr Fragen zu geben. Mit Mühe können wir Iris davon abhalten, in das Erotik-Museum, das sich am Ende des dunklen Gang an der Ecke zur Kantstraße befindet, zu gehen. In das wollte sie schon immer einmal. Dort wird nicht im Sinne des großen Philosophen, sondern im Namen von Beate Uhse Aufklärung betrieben, auch wenn auf eine sehr kommerziellen Weise.
Ronny ist von der Idee begeistert: »In dieser Art von Völkerkundemuseum lernt man bestimmt viel über die Riten und Sitten heterosexuell veranlagter Menschen kennen.«
Kathleen vermutet dagegen, dass Iris sich nur kundig machen wollte, wie das mit dem Geschlechtsverkehr mit einem Mann funktioniert.
»Schatz, das ist wie mit deinem Sex-Spielzeug, nur dass bei dem Mann noch klebrige Flüssigkeit rausläuft.
Iris: »Also ist der Mann das Auslaufmodell unter den Dildos?«
Kathleen: »Aber wer will wirklich so etwas Unpraktisches und Unerotisches wie einen Mann in sich haben?«
Wir, die Schwulen, kreischen wie wild, protestierend und einfordernd, drauf los: »Wir, selbstverständlich!«
Endlich kommen wir am Kurfürstendamm an. Der Straßenrand ist bereits gesäumt von vielen Schwulen, Lesben und vielen Touristen aus aller Herren und Damen Länder, die auf die Parade warten. Auf dem Rasen des Grünstreifens zwischen den Fahrbahnen finden wir noch etwas Platz und postieren uns neben einer kleineren Coming-Out-Truppe von der Küste.
Iris und Thomas setzen sich sofort auf die Bordsteinkante, wischen sich den Schweiß von der Stirn. Wenigstens bieten hohe Bäume genügend Schatten. Björn öffnet die nächste Sektflasche. Jeder nimmt gierig einen Schluck.
Wolfgang stapft zur Apotheke auf der gegenüberliegenden Seite. Er hat seine Ohrstöpsel vergessen, sein Schutz vor der lauten Musik, die während des Zuges von den Wagen dröhnt. Ronny macht sich derweil mit seinen Tüten auf den Weg ins Café Kranzler.
»Bis gleich«, sind seine letzten Worte.
»… und wir sehen dich hoffentlich erst in ein paar Stunden wieder,« ergänze ich und will es auch glauben, denn Ronny, den mag ich nicht wirklich. Aber das ist ja bereits allen bekannt.
Jeden Morgen brachte ihn seine Mutter von der Landwirtschaft, die die Familie in einem der umliegenden Dörfer betrieb, mit dem schwarzen Fiat Panda zum Gymnasium. Nach der letzten Stunde holte sie ihn wieder ab. Danach nahm ihn sein Vater mit zur örtlichen Freiwilligen Feuerwehr und zum Schützenverein, also dorthin, wo die alteingesessenen Dorfbewohner unter sich blieben. Ronny sollte schon früh in das Gemeindeleben eingeführt werden. Ganz im Sinne seines konservativen Erzeugers übernahm er die ganze Stammtisch-Rhetorik, die er dann zu unserem Leidwesen in den Schulpausen zum Besten gab.
Ich daddelte auf meiner Spielkonsole. Gerade als ich das nächste Level erreichte, stieß Ronny auf mich zu: »Dieser kleine italienische Klempner ist doch nur was für Kinder und Mädchen, da gibt es gar keine geilen Tussis.«
»Super Mario spiele ich nur zu Hause. Das ist hier einfach nur Tetris«, antwortete ich ihm und bemühte mich, den Mr.-Möchtegern-Boombastic zu ignorieren.
Ronny versuchte es erneut: »Hast du auf MTV schon das geile Video von Shaggy gesehen – mit den Frauen, die so sexy tanzen?«
»Ich dachte, du stehst nur auf Madonna?«
»Ja auch, aber ihre Videos sind ja schon uralt. Das Geilste überhaupt ist aber Gangsta Rap. Die Musikclips musst du dir mal anschauen! Was für Weiber man da sehen kann! Wow«, quiekte seine noch vom Stimmbruch verschonte, kindliche Stimme, bei der man nicht sagen konnte, wie viel Ronny in ihr tatsächlich steckte. Wahrscheinlich hatte man wieder in den dörflichen Männerrunden davon geschwärmt.
»Im Schützenverein schießt man sich jetzt also auf Hip-Hop und Rap ein?«
Ronny ging drüber hinweg: »Das sind richtige Kerle, die auf niemanden Rücksicht nehmen, nicht mal auf sich selbst. Aber die haben immer scharfe Bräute.«
»Hat das dir auch dein Vater erzählt?«
Heute mag ich die Songs von Shaggy oder Sean Paul schon eher, aber trotzdem gilt für mich noch immer, was ich damals erwiderte: »Wollen die Rapper nicht doch auch nur Stars sein und viel Geld machen? Mit den Frauen – das ist doch alles nur eine Verkaufsmasche.«
Der Einwand schien Ronny nicht zu interessieren: »Ja und? Echte Männer wollen schließlich auch finanziell erfolgreich sein. Außerdem wissen die Rapper, was sich Frauen wirklich wünschen. Die müssen einfach nur richtig durchgefickt werden.«
Diese Phrasendrescherei hatte mich damals schon angewidert, wobei ich heute nicht einmal weiß, ob es einen Unterschied zwischen den Stammtischparolen und vielen Hip-Hop-Texten gibt. Wahrscheinlich ist der Rapper der neue Schützenbruder – im Herzen gleich spießig und langweilig. Ich ließ Ronny einfach stehen und verkrümelte mich auf eine andere Stelle des Schulhofes. Ungerührt spielte ich dort weiter mein Tetris, später zu Hause dann mit Super Mario. Da erreichte man wenigstens auch einmal eine höhere Ebene und blieb nicht auf diesem miesen, niedrigen Niveau hängen.
Zum neunten Schuljahr haben seine Eltern ihn urplötzlich auf ein Internat in Süddeutschland geschickt. Keiner wusste so recht, warum. Ronny war zwar ein Streber, auch wenn nicht Klassenbester, der aber das Abitur ohne weiteres auf unserem Gymnasium geschafft hätte. Auf die wenigen Nachfragen stieß man nur auf eine massive, undurchdringliche Mauer des Schweigens. Das Dorf, in dem Ronny lebte, hielt dicht.
Vor zwei Jahren stellte uns Iris und Kathleen ihren liebsten, schwulen Freund vor, den sie in ihrer Nachbarschaft kennengelernt hatten und der ursprünglich sogar aus unserer Gegend stammt. Ich fiel aus allen Wolken. Ausgerechnet Ronny brachte sie mit. Der gehörte zu denen, die ich mir nicht schwul hätte vorstellen können und wollen. Ich konnte es nicht fassen, und die Geschichte, die ich dann hörte, war einfach nur unglaublich: Seine Eltern hatten ihn damals von der Schule genommen, weil ausgerechnet Ronny mit einem gerade verheirateten Feuerwehrmann in flagranti erwischt wurde. Er war da gerade einmal fünfzehn Jahre alt, auch wenn man ihn wegen der vorhandenen Scham- und Körperbehaarung für wesentlich älter hätte halten können, und die Initiative ist nachweislich und massiv von ihm ausgegangen. Inspiriert sei er von irgendeiner Folge einer amerikanischen TV-Serie gewesen oder von einem Porno, den er irgendwo heimlich gesehen hatte. In dieser Vorlage zog eine etwas ältere Frau in einem Gerätehaus des New York Fire Departments vor einigen der uniformierten Kerle völlig blank. Die Firekeeper fand auch Ronny begehrenswert, sodass er sich schon einmal bei der örtlichen Freiwilligen Feuerwehr etwas genauer umschaute, bis er die Szene bei einem Mann nachspielen konnte … Diese frühreife Schlampe!
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