Die Eltern waren so mit sich selbst beschäftigt, dass keine Zeit für Björn blieb. Der musste mit allen Ängsten und Sorgen allein klarkommen – und von denen gab es täglich mehr, als es einer Kinderseele gut tut.
»Schwuchtel!« »Schwanzlutscher!« »Homo!«
So kreischten sich die Jungs gegenseitig an, ohne zu wissen, was die Wörter eigentlich bedeuteten. Um die Schwächeren fertig zu machen, damit man selbst zum Alpha-Tier der Klasse wird, reichte es schon aus, dass die Wörter laut ausgesprochen werden. In der Grundschule mobben sich die Erstklässler gegenseitig. Die Rangordnung in einem Rudel wird früh festgelegt.
Muttis bewunderten dafür insgeheim ihre Zöglinge. Die
Frau mit den verfilzten Haaren aus dem Naturkostladen geiferte wütend herum, als eine Kundin dem »süßen Mäuschen« von Sohn einen Lolli schenken wollte: »Unterlassen Sie diese femininen Ausdrücke.« Wenn sie auf die Aggressivität des Kindes angesprochen wurde, dann zuckte sie nur mit den Schultern: »Mein Sohn ist halt ein richtiger Junge. Nicht so ein Weichei!«
Ein Vater, der als Imam in einer Hinterhof-Moschee predigte, war zwiegespalten: »Einerseits ist es richtig, dass die Kinder früh lernen, dass Homosexualität mit dem Koran nicht vereinbar ist. Aber seinen Sohn als perverse Sau zu beleidigen, ist nicht in Ordnung. Das geht doch zu sehr gegen die Ehren eines jeden Türken.«
Den Lehrerinnen war sowieso alles egal, oder sie waren schlicht überfordert. Kein einziges Mal haben sie den ständigen Kämpfen unter den Schülern Einhalt geboten.
»Schwanzlutscher!« »Homo!«
Björn wusste bereits mit sechs, sieben Jahren, dass er damit gemeint war, auch wenn er nur selten das Opfer seiner Klassenkameraden war. Es gab genügend Schwächere. Aber er wusste in seinem tiefen Inneren, dass er anders als die anderen Jungs war. Was unterschied ihn eigentlich?
Er hatte keine Abneigung gegen das Fußballspielen. Da war er nicht anders als die anderen. Nur ob seine Mannschaft, in der er genauso gut und schlecht wie die anderen mitkickte, gewann, das war ihm egal. Ihm ging es allein um 90 Minuten Ästhetik.
Björn spielte nur selten mit den Mädchen, nicht viel öfter als die anderen Jungs. Die Mädchen hatten Barbie-Puppen, mit denen sie lediglich übten, wie eine Frau sich richtig nach einem Traumprinzen sehnt. Das war ihm zu verschroben.
Lieber spielte er dann allein mit seinen Playmobil-Figuren. Die waren wenigstens dem realen Leben nachgebildet. Da gab es den Bauarbeiter, den Polizisten, den Motorradfahrer, den Indianer oder den Cowboy, mit denen er die Village People hätte nachbilden können. Berufsbilder und Stereotypen, bei denen die Männer gut auszusehen haben und viel Haut zeigten. So wie Rolf, ein Arbeitskollege seines Vaters. Der trug in der Freizeit meistens nur ein viel zu kurzes T-Shirt, der Blicke auf den Rücken und die beginnende Arschfalte zuließ, so bald er sich bückte. Bauarbeiter-Dekolleté, nannte das seine Mutter verächtlich. Björn mochte ihn nicht nur deswegen, sondern auch, weil er so intensiv nach verschwitztem Mann roch.
Aber eine warnende Stimme in ihm sagte immer wieder: Das sind alles Vorlieben, die die anderen Schüler in der Klasse nicht haben. Er behielt sie besser für sich. Mit wem hätte er auch darüber reden können?
»Homo!«
Einen Wolfgang hat es für Björn damals nicht gegeben, jemand, der schon in seiner Kindheit über das Wort »Homo« als Schimpfwort gelacht hätte.
»Wenn das Schweine oder Rindviecher unter sich sagen würden, wäre das noch nachvollziehbar. Aber wenn sich Menschen gegenseitig als »Mensch« beschimpfen, dann zeugt es nur von Dummheit,« so erklärte Wolfgang es Björn, als dieser das erste Mal in der Katzenstube auftauchte.
Er hat ihm dann auch – leider Jahre zu spät – vorgeschlagen: »Wenn dich jemand als »Homo« beschimpft, antworte ihm, du seist stolz, ein Mensch zu sein. Erkläre ihm: Homo ist Latein und heißt nichts anderes als Mensch. Verstehst du? Aber du selbst gehst davon aus, dass der andere dann ein »Bovis«, ein Ochse, sein müsse.«
Es war an einem bedeckten, nicht allzu warmen Sommertag. Björn war mittlerweile auf dem Gymnasium, als er den Nachmittag im Freibad, das in einer Talsenke mitten in einem Hain gelegen ist, verbrachte. Ein idyllischer Ort mit mehreren Liegewiesen, einem Kinderbecken, einem Sportbecken und einem Drei-Meter-Turm. Hier spielte er manchmal mit anderen aus seiner Schule, wenn die es zuließen, Wasserball oder auf dem Rasen Fangen.
Wegen des Wetters hatten sich an dem Tag nur wenige Gäste und überhaupt kein Mitschüler ins Freibad verirrt. So lag Björn am Anfang noch etwas gelangweilt auf seinem Handtuch und beobachtete die Jugendlichen aus dem Schwimmsportverein, wie sie ihre Salti vom Ein-Meter-Brett übten. Seine Aufmerksamkeit wanderte dann weiter zum Sportbecken. Dort zogen die Vereinsschwimmer unter der strengen Aufsicht des Trainers ihre Bahnen. Allesamt erwachsene Männer mit breiten Schultern, die mit ihren Armen das Wasser durchpflügten.
Wieder zurück zum Brett: Als er einen der Wasserspringer mit seinen Blicken länger beobachtete, fing sein Herz an, heftig zu klopfen. Björn spürte plötzlich ein Kneifen und Zwicken seiner Badehose, die ihm plötzlich irgendwie zu eng geworden zu sein schien. Als er das Kleidungsstück zurechtrücken wollte, geriet er in Panik. Sein Penis war angeschwollen und durch eine gewisse Steife nicht mehr zu biegen.
Sein erster Gedanke: sofort damit zum Notarzt oder zumindest zu den Lebensrettern der DLRG. Dabei hatte er gar nicht mitbekommen, dass er an irgendetwas gestoßen oder sich sonstwo verletzt hätte. Außerdem tat sein Pimmel überhaupt nicht weh. Und da war ja der Wasserspringer, den er zwanghaft weiter beobachten musste, wie er ins kühle Nass tauchte. Trotzdem: diese Veränderung an seinem Körper war Björn einfach zu unheimlich. Vielleicht hatte sein Penis wegen einer Krankheit auch seine Größe verändert. Und was wäre, wenn das Glied jetzt abstürbe, wie bei Leprakranken oder nach Erfrierungen? Wie sollte er dann in Zukunft Wasser lassen? Sollte er sich doch untersuchen lassen? Der Wasserspringer kletterte aus dem Becken. Wasserperlen auf der Haut, die in der Sonne glänzten. Björn hörte sein eigenes Herz pochen. Aber wenn es nichts Ernsthaftes mit seinem Schwanz wäre, würde man ihn nur auslachen. Das wollte er auch nicht. Bei Schwellungen hilft ausgiebige Kühlung, hatte ihm seine Mutter schon als Kleinkind beigebracht. Er konnte nur eins machen: ab ins kalte Wasser!
Nach einer Stunde im Schwimmbecken war Björn ausgekühlt. Er traute sich noch immer nicht heraus, und er traute sich nicht, zu prüfen, ob an seinem Schwanz die Schwellung abgeklungen war. Das Freibad leerte sich merklich. Kurz vor Schließung war Björn einer der letzten im Wasser. Die Jungs aus dem Schwimmverein begannen bereits das Freibad aufzuräumen.
»Du solltest rauskommen. Deine Lippen sind schon ganz blau.«
Die Aufforderung kam von einem Jugendlichen, bei dem schon der erste Bartflaum über der Lippe zu erkennen war. Gerade der Wasserspringer, den er beobachtete, reichte Björn die Hand, sodass er leichter am Beckenrand herausklettern sollte.
»Nur Mut!«, forderte er ihn auf. Dann zog er ihn mit einem herzlichen Lächeln heraus. Schon dieses wärmte Björn auf. Der Jugendliche aus dem Schwimmverein war aber niemand anderes als Jan.
Der konnte sich zwar nicht mehr erinnern, dass er Björn einmal aus dem Wasser gezogen habe. Aber immerhin gehört sein Freund dadurch zu den wenigen, die sich an eine ihrer ersten bewussten Erektionen erinnern können, und er selbst hat sie ausgelöst. Das verbindet!
»Aber diese Unwissenheit … wie niedlich! Und das in einer Zeit, wo schon die Vorschulkinder mehr Wissen über Sex haben als ihre Urgroßmütter am Ende eines erfüllten Lebens. Beim Sexualkundeunterricht in der Schule muss er so etwas von gefehlt haben.«
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