Horst Bosetzky
Der Teufel
von Köpenick
Roman
Jaron Verlag
Taschenbuchausgabe
1. Auflage dieser Ausgabe 2015
© 2009 Jaron Verlag GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt.
Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien.
www.jaron-verlag.de
Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin.
Foto: © [ www.abracus.de]
(Bolle-Milchwagen vor dem Berliner Schloss, 1921)
Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015
ISBN 978-3-95552-210-0
Cover
Titel Horst Bosetzky Der Teufel von Köpenick Roman Jaron Verlag
Impressum Taschenbuchausgabe 1. Auflage dieser Ausgabe 2015 © 2009 Jaron Verlag GmbH, Berlin Alle Rechte vorbehalten. Jede Verwertung des Werkes und aller seiner Teile ist nur mit Zustimmung des Verlages erlaubt. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Medien. www.jaron-verlag.de Umschlaggestaltung: Bauer+Möhring, Berlin. Foto: © [ www.abracus.de ] (Bolle-Milchwagen vor dem Berliner Schloss, 1921) Satz: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin 1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2015 ISBN 978-3-95552-210-0
Eins - 1921
Zwei - 1921
Drei - 1932/33
Vier - 1932
Fünf - 1933–1937
Sechs - 1938
Sieben - 1939–1943
Acht - 1943
Neun - 1943
Zehn - 1943
Elf - 1943
Zwölf - 1943
Dreizehn - 1944
Vierzehn - 1944
Fünfzehn - 1945
Nachwort zur Originalausgabe 2009
Quellenverzeichnis
Bruno Lüdke war dreizehn Jahre alt und saß links außen in der ersten Reihe, so dass er nach dem rotbäckigen Apfel greifen konnte, den der Klassenlehrer in die Höhe hielt.
»Den … den … den will ich essen, bitte!«
Pennigstorff riss den Arm zurück. »Tut mir leid, Bruno, den brauche ich noch zu Unterrichtszwecken. Sage mir doch einmal, wie kann man den Apfel teilen, damit drei Leute Stücke bekommen, die dieselbe Größe haben?«
Bruno Lüdke schloss die Augen, und man sah, wie es in ihm arbeitete. »Na, in die … die … die Mitte durch und noch mal, det gibt vier … vier … vier Stücke. Da gibt man jedem von die … die … die Menschen eins, und eins bleibt übrig.«
»Gut, Bruno! Aber ohne dass ein Stück übrigbleibt.«
»Dann gehe ich lieber in … in … un … un … unseren Garten und hole eine ganze Kiepe mit Äpfel«, entschied Bruno Lüdke. »Dann kriegt jeder ganz … ganz … ganz viele, und die kann er dann so lange essen, bis … bis … bis er kotzen muss.«
»Brechen!«, rief der Amtsarzt, der gekommen war, um sich ein Bild vom Leistungsstand der Jungen zu machen. Die »Hilfsschule in Cöpenick« war ein wenig in Verruf geraten.
Pennigstorff wechselte das Thema, denn er wollte Bruno Lüdke nicht quälen.
Je mehr Druck der Junge verspürte, desto ärger wurde es mit seinem Stottern, und umso mehr Mühe hatte er, auf Anhieb das richtige Wort zu finden.
»Sag einmal, Bruno, wer war Bismarck?«
»Der hat die … die … die große Straße in … in … in Charlottenburg.«
»Du kennst dich aber gut aus in Berlin«, lobte ihn der Lehrer.
Bruno Lüdke strahlte. »Ick sitz ja auch bei … bei … bei Vatan imma vorne uff’m Bock mit druff. Wäsche ausfahrn.«
Der Amtsarzt beschloss, die Sache selber in die Hand zu nehmen. »Was ist denn Religion, Bruno?«
»Wenn die … die … die Leute in die Kirche gehen.«
»Richtig! Und was machen sie da?«
Bruno Lüdke nickte. »Ja!«
Pennigstorff lächelte ihn an. »Warst du schon einmal in der Kirche, Bruno?«
»Wenn der … der … der Blitz in den Kirchturm einschlägt, dann … dann … dann ist das ganz laut. So laut!« Bruno Lüdke hämmerte mit beiden Fäusten auf sein Pult.
Der Amtsarzt fühlte sich an den Krieg erinnert und fragte Bruno Lüdke, was denn Krieg sei.
»Da … da … da kriegen alle was auf die … die … die Mütze.«
Nach Beendigung der Stunde stand der Amtsarzt noch ein paar Minuten mit dem Klassenlehrer zusammen, um mit ihm über Bruno Lüdke und die anderen dreißig Jungen der »Hilfsschule zu Cöpenick« zu reden. Er hatte sich vor seinem Besuch bei Pennigstorff in Eugen Bleulers Lehrbuch der Psychiatrie über die Psychopathologie der Oligophrenien schlaugemacht und konnte nun den Fachmann spielen. »Wir unterscheiden drei Grade von Schwachsinn«, referierte er. »Die Idiotie, die Imbezillität und die Debiliät. Die Idiotie ist der höchste Grad. Idioten lernen gar nicht oder nur mangelhaft zu sprechen, sie sind pflegebedürftig, können keinerlei Schulwissen aufnehmen und auch keinerlei Erwerb nachgehen. Debile am anderen Ende der Skala können, wenn auch nur mit Mühe, den Abschluss der Volksschule schaffen und ihr Brot mit einfachen Arbeiten verdienen. Imbezille wie Bruno Lüdke liegen in der Mitte und können im Regelfall viel mehr, als sie selbst wissen.«
»Also meinen Sie, Herr Doktor, dass er seinen Weg gehen wird?«
»Sicher! Seine Eltern haben doch diese Wäscherei, da kann er sich immer nützlich machen, zumal er ja ordentlich erzogen ist und sich leicht in die Familienordnung einfügt, wie mir seine Mutter versichert hat.«
Pennigstorff nickte. »Ja, er ist wirklich ein lieber und umgänglicher Mensch.«
Der Kietz, unterhalb des Schlosses am östlichen Ufer der Dahme gelegen und bereits 1375 in den Chroniken erwähnt, war ursprünglich eine slawische Fischersiedlung und selbständige Landgemeinde. Als eine der drei Vorstädte war sie 1898 Teil Köpenicks geworden und hatte seither ihren Charakter erheblich verändert. Die Zahl der Fischer war zurückgegangen, und Handwerker und kleinere Geschäfte hatten sich hier angesiedelt, so auch die Wäscherei Otto Lüdke in der Grünen Trift. Diese verlief quer durch das Kietzer Feld, reichte von der Müggelheimer Straße beziehungsweise dem Müggelheimer Damm bis hinunter zum Lienhardweg und ließ bestenfalls an märkische Ackerbauerstädtchen denken, da sie nur wenig Charme besaß.
Am südöstlichen Rand der Köpenicker Altstadt lag der Punkt, an dem die Wendenschloß- und die Müggelheimer Straße – später Müggelheimer Damm – sich trafen, um dann radial nach Süden beziehungsweise Südosten zu laufen und sich für die Siedlung Wendenschloß und die Kietzer Vorstadt zu öffnen. Ein Dreieck aber ergab sich nicht, da am unteren Ende eine durchgehende Straße, welche die Hypotenuse abgegeben hätte, fehlte und sich alles wie ein Trichter zum Wald hin öffnete, zur Nachtheide und den Müggelbergen.
Bruno Lüdke liebte es, mit einem dicken Knüppel in der Hand, seiner Keule, durch die Gegend zu stromern, und hörte er, dass ihn gehässige Nachbarn einen Urmenschen oder Neandertaler nannten, so verstand er es nicht, denn er fühlte sich wie ein Wolf oder ein Bär. Er hatte keinen Plan, er wollte nichts, er folgte nur den Stimuli, die er registrierte. Sah er einen Apfel am Baum, dann wollte er ihn pflücken und essen. Hörte er einen Kuckuck rufen, dann wollte er ihn sehen. Ratterte irgendwo eine Straßenbahn, hatte er Lust, ein Stück mit ihr zu fahren, tutete es oben an der Spree oder dem Müggelsee, dann wollte er wissen, ob das ein weißer Ausflugsdampfer oder ein schwarzer Schlepper war. Entdeckte er Pilze und Beeren, so sammelte er sie in seiner Mütze, waren es Kamille oder Schafgarbe, riss er sie heraus und brachte die Büschel der Mutter. Bruno Lüdke war eins mit sich und der Welt und so glücklich, wie es normale Menschen niemals sein konnten.
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