Er blickte in jede Wohnung hinauf, in der noch Licht brannte, in jedes Schlafzimmer, und stellte sich vor, was sich dort gerade anbahnte oder bereits geschah. Alle genossen das, was ihm verwehrt worden war, und er glaubte, Lustschreie zu hören.
Nein … Er blieb stehen. Das eben hatte eher nach einem Hilfeschrei geklungen.
Er war aus der Villa rechts vor ihm gekommen. Eben wurde dort ein Vorhang vorgezogen. Mit einem kräftigen Ruck.
Der Kriminalist in ihm erwachte. Kein Wohnungsinhaber riss derart an einem Vorhang, musste man doch damit rechnen, dass einem die Gardinenstange auf den Kopf fiel oder der Stoff Schaden nahm. So konnte nur ein Fremder handeln, ein Einbrecher. Und wenn das, was er eben gehört hatte, wirklichein Hilfeschrei gewesen war, dann hieß das, dass der Einbrecher vom Wohnungsinhaber überrascht worden war. Jetzt stand er vielleicht mit gezogener Pistole vor ihm, um ihn zu fesseln und zu knebeln. Oder zu erschießen, wenn es zur Gegenwehr kam. Das war das übliche Szenario.
Franzke überlegte. Ehe er die nächste Telefonzelle fände und die Kollegen von der Schutzpolizei alarmieren könnte, verging zu viel Zeit, also musste er selber handeln. Tat er es nicht und geschah in der Zwischenzeit ein Mord, konnte das disziplinarrechtliche Folgen für ihn haben. In jedem Fall aber würde ihm dies die herbe Kritik und den Spott seiner Vorgesetzten und Kollegen einbringen, und das war nicht gut für seine Karriere. Also schlich er sich durch den Vorgarten. Die Eingangstür war nur angelehnt, was ihn in seiner Vermutung bestätigte. Er kam in einen Windfang und dann in die Diele. Im ersten Stock hörte er Stimmen.
Zwei Männer sprachen mit einer jungen Frau.
»Wo ist der Schüssel zum Tresor?«
»Das weiß ich nicht, den hat mein Vater.«
»Raus mit der Sprache, sonst knallt’s!«
Das sagte alles. Franzke überlegte. Wenn er doch nur seine Dienstwaffe bei sich gehabt hätte! Aber so? Allein hätte er gegen zwei Männer, von denen zumindest einer eine Schusswaffe bei sich führte, keine Chance gehabt.
Was tun? Jedes Zögern konnte der jungen Frau das Leben kosten, aber wenn er jetzt nach oben stürzte, starrte er auch nur in den Lauf einer Pistole und hatte die Hände hochzunehmen.
Es blieb ihm nur ein Überraschungscoup.
Er sah eine Steckdose. Nun brauchte er nur noch eine Büroklammer, drei Nägel oder … In der Schale, die auf der Flurgarderobe stand, entdeckte er zwei Haarklammern aus Metall. Mit denen ging es auch. Er verdrillte sie miteinander, bog sie zurecht, fasste das U-förmige Gebilde in der Mitte mit seinem Taschentuch und steckte die beiden Enden in die Dose.
Es gab einen gewaltigen Kurzschluss, und im gesamten Haus erlosch das Licht.
»Hände hoch, Polizei!«, schrie er gleichzeitig. »Die Waffen auf den Boden!«
Der Diplom-Ingenieur Martin Diemitz galt als ein gemachter Mann. Aus der Sicht von Konzernen wie Thyssen, Krupp oder Mannesmann war seine Metallwarenfabrik in der Britzer Gradestraße nur eine kleine Klitsche, aber sie hatte ihm immerhin eine stattliche Villa, ein Wassergrundstück in Wernsdorf, eine Motoryacht und einen kleinen Fuhrpark eingebracht. Daneben aber auch eine wunderbare Frau, seine Isolde, die seinetwegen ihre Karriere als Opernsängerin aufgegeben hatte. Zwei Kinder hatte sie ihm geschenkt, einen Sohn und eine Tochter, ein Pärchen also, was als Idealfall galt. Ingemar hatte Medizin studiert und gab als Chirurg in der Charité zu großen Hoffnungen Anlass, Irmhild ging auf das Konservatorium und wollte in die Fußstapfen ihrer Mutter treten und Opernsängerin werden. Sie war der Augapfel des Vaters, und so hatte dieser nicht gezögert, den Retter seiner Tochter zu einem festlichen Essen einzuladen. Ins Adlon natürlich.
Nach der Suppe hob Diemitz sein Glas, um eine kleine Rede zu halten. »Mein lieber, verehrter junger Freund, lieber Herr Franzke! Wir haben uns heute hier zusammengefunden, um Ihnen von Herzen für die Rettung unserer Tochter und Schwester zu danken. Sie ist unser Ein und Alles. Und wären Sie nicht rechtzeitig erschienen und hätten großen Mut bewiesen, wäre sie womöglich … Ich kann es nicht aussprechen, verzeihen Sie mir. Wie Sie die Verbrecher mit Ihrer List, würdig eines Odysseus, dazu gebracht haben, von Irmhild abzulassen, und einen von ihnen bei der Flucht dann auch noch gepackt und niedergeschlagen haben, verdient unsere höchste Bewunderung. Da nun auch der zweite Einbrecher gefasst ist, können wir wieder in Ruhe das Haus verlassen. Auch unsere Irmhild hat sich von dem Schrecken erholt, heute ist sie nun endlich von ihrer Kur zurück, und wir können nachholen, was lange fällig war: unser Beisammensein hier im Adlon. Ein dreifaches Hoch auf unseren edlen Ritter, auf Herrn Heinz Franzke!«
Das Essen kam, und es entwickelte sich ein sehr anregendes Gespräch.
»Was halten Sie eigentlich von Adolf Hitler?«, fragte Diemitz.
Franzke zögerte mit einer Antwort. »Politische Lieder sind ja immer garstige Lieder, wie der Herr Goethe meint, und der Rehrücken hier ist so wunderbar, dass ich …«
»Wir sind immer deutschnational gewesen«, sagte Diemitz. »Und wenn Hugenberg Hitler unterstützt, dann soll es uns recht sein. Ingemar liebäugelt auch schon mit der NSDAP.«
»Nun gut!« Franzke wollte es wagen, ein Geständnis abzulegen. »So, wie ich aufgewachsen bin, kann es für mich gar keine andere Wahl geben. Ich bin am 1. August in die Partei Adolf Hitlers eingetreten.«
»Gut so, junger Mann!«, rief Diemitz, »denn die Zukunft Deutschlands heißt Adolf Hitler!«
Irmhild Diemitz, die bisher geschwiegen hatte, sah Franzke strahlend an und fragte ihn, ob es ihm denn schon gelungen sei, den Neuköllner Frauenmörder zu fassen.
Er stöhnte. »Nein, leider nicht! Und das Schlimmste ist, die Akte Mathilde Rolland wird bis auf weiteres als ergebnislos geschlossen werden müssen. Das macht mich furchtbar wütend, denn jeder Mann, der einer deutschen Frau so etwas antut, verdient meiner Meinung nach nur eines: die Todesstrafe. Und wenn die Akte zehnmal auf Weisung von oben geschlossen wird, ich werde nicht eher ruhen, bevor ich den Mörder der Mathilde Rolland an den Galgen gebracht habe.«
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