»Ganz meine Meinung!«
Sie ließen sich von Lincke eine Beschreibung des Unbekannten geben: zwischen 25 und 30 Jahre alt, etwa 1,75 Meter groß, schlank, sportliche Figur, mittelblondes langes und glatt nach hinten gekämmtes Haar, längliches Gesicht mit hervorstehenden Wangenknochen, helle Stimme, ein bisschen weiblich. Bekleidet mit einer Joppe und langen dunklen Hosen. In der Hand eine Aktentasche.
Als sich dann herausstellte, dass die Fingerabdrücke auf dem Aschenbecher von Lincke stammten, waren die Ermittler enttäuscht.
Blieb der Hinweis auf die NSDAP. Franzke und Litzenberg behagte es gar nicht, dass der Mörder der Rolland womöglich in ihrem eigenen Milieu zu suchen war, aber Dienst war Dienst, und so kamen sie nicht umhin, im Sturmlokal Kaiser-Friedrich-Straße 25 Nachforschungen anzustellen.
Dort trafen sie auf einen früheren Nachbarn der Rolland, einen gewissen Franz Pitarski, der ihnen erzählte, dass die Ermordete viel für die Partei geschrieben hatte und eine fanatische Anhängerin gewesen war. »Wie ich die Mathilde kennengelernt habe? Durch die Partei, ich bin auch Nationalsozialist und sogar Zellenführer. Da muss ich regelmäßig Parteigenossen aufsuchen und ihnen Nachrichten bringen. Und die Beiträge kassieren. Die Hilde, das war eine intelligente Frau, aus der hätte noch was werden können. Erst war sie beim Amtsgericht Neukölln beschäftigt als Justizangestellte, glaube ich, dann im Wohlfahrtsministerium in der Leipziger Straße.«
»Und warum hat sie da aufgehört?«, wollte Franzke wissen.
»Aufgehört?« Pitarski schüttelte den Kopf. »Sie hat nicht freiwillig aufgehört. Man hat ihr gekündigt!«
»Und warum?«
»Keine Ahnung! Es hieß damals, dass sie in eine Spionagegeschichte verwickelt gewesen sein soll. Als sie in Schöneberg wohnte, hatte sie Polen als Freunde gehabt, und die sollen der Grund dafür gewesen sein, dass sie gefeuert worden ist.«
Litzenberg hakte bei den Behörden nach, konnte aber nichts in Erfahrung bringen, was für sie interessant gewesen wäre. Ganz abwegig schien aber der Gedanke an einen politischen Mord nicht zu sein, denn Lincke und die Geschwister Intek, die der Rolland beim Umzug geholfen hatten, berichteten, dass am Vormittag angeblich ein Onkel bei ihr aufgetaucht sei und sich nachmittags ein jüngerer Mann nach ihr erkundigt habe. Näheres konnten sie aber auch nicht sagen.
Das Gespräch mit Marianne Intek brachte aber in anderer Hinsicht wertvolle Erkenntnisse. Man hatte die Büroangestellte nicht in ihrer Wohnung oder an ihrem Arbeitsplatz aufgesucht, sondern ins Präsidium vorgeladen.
»Die Hilde, die Mathilde habe ich bei Ziemann kennengelernt, bei Oskar Ziemann in Charlottenburg, da sind wir Kolleginnen gewesen.«
»Und was haben Sie da gemacht?«, fragte Litzenberg, der schon etwas zu ahnen schien.
»Ich war Helferin für Bestrahlung und Höhensonne«, antwortete die Intek.
»Keine Massagen?«, wollte Litzenberg wissen.
Marianne Intek senkte den Kopf. »Doch …«
»Also ganz gewisse Massagen?«
»Ja, aber ich hatte nie Geschlechtsverkehr mit einem Patienten.«
»Und die Rolland?«, fragte Litzenberg.
»Kann sein …«
Franzke hakte nach. »Und kann es auch sein, dass sie Männer, die bei Ziemann waren, zu sich nach Hause bestellt hat?«
»Gott, junger Mann, wir wollen alle überleben!«
Franzke nickte. Ja, es musste eine andere Zeit kommen, ein Drittes Reich, in dem die Menschen wieder Arbeit und eine sichere Zukunft hatten!
Litzenberg zückte seinen Notizblock. »Können Sie denn den jüngeren Mann beschreiben, Fräulein Intek, der sich mit der Rolland treffen wollte?«
»Ja, klar!«
Die Beschreibung, die ihnen Marianne Intek lieferte, deckte sich weithin mit der von Heinz Lincke, so dass sie ein »Mordplakat« drucken und überall in Neukölln und nebenan in SW 29 aushängen konnten. Für Hinweise zur Ergreifung des Mörders wurden eintausend Reichsmark Belohnung ausgesetzt.
Litzenberg und Franzke konnten erst einmal Atem holen und die Ruhepause im Fall Rolland nutzen, um zum Sportpalast zu gehen, wo Joseph Goebbels eine Rede halten sollte. Es hieß, er würde bei dieser Gelegenheit die Kandidatur Adolf Hitlers für das Amt des Reichspräsidenten verkünden.
Noch war es nicht so weit, dass alle Deutschen wussten, was es mit der Vorsehung auf sich hatte, aber wenn Heinz Franzke später auf das zu sprechen kam, was er im Mai 1932 erlebt hatte, kam er ohne sie nicht aus.
In der Kantine des Polizeipräsidiums hatte es eine kleine Feier gegeben, den Tanz in den Mai bei einer gehaltvollen Bowle.
Franzke war ein annehmbarer Tänzer, und bei der Damenwahl stand Fräulein Grützmacher vor ihm, Gisela Grützmacher, und fragte ihn: »Darf ich bitten?«
Das Licht war zum Glück so schummrig, dass niemand sehen konnte, wie sehr er errötete, denn die Stenotypistin, die ein wenig älter war als er, stand in dem Ruf, gerne Männer zu vernaschen, und seine Erfahrungen auf erotischem Gebiet beschränkten sich auf Doktorspiele, harmlose Knutschereien und das, was man umgangssprachlich Handbetrieb nannte. Vor käuflicher Liebe war er stets zurückgeschreckt, denn die stand bei ihm für undeutsche Dekadenz. Außerdem fürchtete er zweierlei: zum einen, sich anzustecken – mit der Gonorrhö oder gar der Syphilis –, und zum anderen, bei einer Razzia im Bordell erwischt und wegen sittlicher Verfehlungen aus dem Dienst entfernt zu werden. Freundinnen hatte er mehrere gehabt, aber nie war es zum Intimverkehr gekommen, höchstens hatte sich sein Samen, nachdem er sich lange an einem Frauenkörper gerieben hatte, in die Unterhose ergossen.
Die Aussicht, von Fräulein Grützmacher noch an diesem Abend verführt zu werden, ließ seinen Blutdruck hochschnellen, erfüllte ihn aber auch mit gehöriger Angst. Wenn er nun versagte und sie das überall herumerzählte, wäre er erledigt gewesen. Es musste also die berühmte Güterabwägung getroffen werden, und da entschied er sich nach längerem innerem Ringen für das erste Mal. Schließlich war er 24 Jahre alt. Allerdings … Vater werden wollte er auf keinen Fall. Aber so erfahren, wie Fräulein Grützmacher war, hatte sie ganz sicher eine Packung Fromms zu Hause.
»Sie sind doch sicherlich Kavalier und bringen mich nach Hause?«, fragte sie, als die Feier gegen zehn Uhr abends zu Ende ging.
»Aber selbstverständlich! Wo wohnen Sie denn?«
Fräulein Grützmacher lachte. »Na, gleich um die Ecke, draußen in Lichterfelde.«
Franzke deutete eine kleine Verbeugung an. »Sie würde ich bis ans Ende der Welt bringen.«
Sie fuhren mit der Straßenbahn bis zum Potsdamer Bahnhof und erwischten dort den letzten Zug nach Wannsee. Im Zug kuschelte sie sich an ihn und ließ sich nach dem Aussteigen in einer dunklen Ecke des Bahnhofs Lichterfelde-West auch küssen, doch als die beiden vor ihrem Wohnhaus am Weddingenweg angekommen waren, kam die kalte Dusche für ihn.
»Nett, dass Sie mich gebracht haben«, sagte Fräulein Grützmacher beim Aufschließen der Haustür.
Er spielte den Mann von Welt und gab sich so wie die Männer in den UFA-Filmen. »Den Dank, edle Dame, begehr ich wohl, und wenn es nur eine Tasse Kaffee bei Ihnen oben ist. Ich brühe ihn auch gern selber.«
Sie warf ihm eine Kusshand zu. »Tut mir leid, aber mein Verlobter wartet oben auf mich. Und es ist seine Wohnung.«
Damit war er also abgeblitzt. Er konnte es nicht begreifen. In der ersten Aufwallung wollte er einen Stein nehmen und ihn in die Scheibe des Zimmers werfen, in dem gerade das Licht anging, aber er konnte sich gerade noch beherrschen. Dann stand er da wie gelähmt. Wie ein begossener Pudel, wie der Ritter von der traurigen Gestalt.
Was blieb ihm also anderes übrig, als nach Hause zu trotten. Die Kommandanten- bis zur Ringstraße und dann den Gardeschützenweg hinauf in Richtung Bahnhof Steglitz. Drei Kilometer mochten es sein, also keine Entfernung, die ihn hätte jammern lassen.
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