Thomas kichert in sich hinein. Keiner weiß, woran der schon wieder denkt.
Wolfgang dann weiter: »Aber lustig wäre das schon. Das elfte Gebot: Deinen Schwanz darfst du nur in die linke Hand nehmen, weil der ist böse – sehr, sehr böse.«
Ich: »Und das, wo ich doch so ein positives Verhältnis zu meinem Glied habe. Beim Wichsen werde ich jetzt erst recht nur noch die böse Hand nehmen!«
Wolfgang: »Du bist ja auch schon selbst jenseits von Gut und Böse.«
»Hauptsache, ihr wascht euch danach die Hände!«, beendet Iris ihren kleinen Gesundheitsschlaf auf dem Rasen. »Außerdem: gepinkelt wird ab sofort nur noch im Sitzen. Ist das klar? Dass frau das den Kindern immer wieder sagen muss …«
»Ja, Mutti!«
In der Schwarz-Weiß-Welt hat alles seinen festgelegten Platz und das heißt für die erste Reihe: Ein Geißenpeter trägt die Krachlederne, denn ein Mann hat die Hosen an. Heidi ist sittsam im Dirndl. Eine anständige Frau trägt halt Rock, steht in der Küche und versorgt die Kinder. Der Mann geht täglich zur Arbeit und kommt auch abends wieder nach Hause – mit dem verdienten Geld! Eine allein erziehende Mutter, die für den Lebensunterhalt sorgen musste, galt bei Soziologen noch als eindeutiges Zeichen der Armut der Unterklasse. Auch in der Wissenschaft gibt es immer Professoren, die nicht die Wahrheit suchen, sondern nur eine Ideologie, und sei es eine, die die Geschlechtertrennung propagiert.
Der Aschenbecher war voll von Zigarettenstummeln. Auf dem niedrigen Wohnzimmertisch standen die Flasche Korn und das Bier. Großvater war aus dem Dachgeschoßzimmer runtergekommen. Auf dem Schwarz-Weiß-Fernseher flimmerte das ZDF-Magazin. Erst die Beatles mit den weibisch langen Haaren, dann Studenten, die auf die Straße gegangen waren, und nicht genug zu verurteilen, diese verräterische Ostpolitik dieses sozialdemokratischen Kanzlers, der dafür noch zu allem Überfluss den Friedensnobelpreis erhielt, da war diese Sendung für Wolfgangs Opa und den Vater ein Lichtblick. Unverschämt, dass die Kommunisten und all die anderen Störenfriede den Moderator, diesen Löwenthal, als reaktionär diffamierten. Er sagte doch nur die Wahrheit.
Mutter stellte Salzgebäck auf den Tisch.
Ein Mann hat die Frau zu begehren und die Frau dabei dem Mann willig ergeben zu sein. Der Mann ist mutig, stark und voller Willenskraft, weint nie, kann abstrakt denken, während das Weib mütterlich, schwach, aber dafür mit hoher sozialer Kompetenz ausgestattet ist.
Der Großvater hatte beide Weltkriege erlebt. Er redete nicht darüber. Aber der Krieg namens Emanzipation, den die Frauen da entfacht haben, war für ihn schlimmer als die beiden wirklichen Katastrophen. In Wolfgang, der gerade pubertierte, rumorte es gewaltig. Er hoffte schon damals auf die Gleichberechtigung aller Menschen. Aber seine Meinung war, so lange seine Füße unter dem elterlichen Wohnzimmertisch waren, nicht gefragt. Wenn die Erwachsenen reden, haben die Kinder zu schweigen. Die Litaneien seines Großvaters und seines Vaters waren zu erdulden, denn die Großen hatten immer Recht:
Der Ehegatte darf seinem angetrauten Weibe schon einmal erlauben, Auto zu fahren, aber nur dann, wenn sie ihn bitten muss, den Wagen in die Parklücke zu fahren … Dann weiß der Mann noch, was ein Mann ist … da herrschen klare Verhältnisse … Ein solches Weltbild gibt Halt und mag einem den Weg weisen. Vor allem einfach denkende Menschen werden durch dieses nicht überfordert, und alles, was dem widerspricht, ist des Teufels, wo immer der darin stecken mag. Notfalls muss man sich die Welt nach seinem Bild zurechtbiegen, auch wenn das mehr als totalitär ist. Was nicht diesem Diktat entspricht, gehört ausgemerzt oder zumindest zur Halbwelt, in dem die Dämonen hausen. So wie in der Landvilla dieses ewigen Junggesellen, dem reichen Schnösel. Man munkelt, dort gebe es ein richtiges Sodom. Männer laufen dort nur in Unterhosen herum, während sie sich besaufen. Ein anderes Mal lädt er zu einem Bal des Têtes ein, bei dem die Herren sogar splitternackt, nur mit einer Gesichtsmaske verkleidet, Bambule machen, und sich – ein noch größerer Skandal – dabei fotographieren lassen. Allesamt nur dekadente Teufel, mit denen Wolfgangs Familie nichts zu tun haben will. Vor denen muss man die Kinder schützen.
Die Lebenswirklichkeit ist der schlimmste Feind dieses Ordnungsbildes – all die Männer, die ihren Gefühlen freien Lauf lassen wollen, oder Freude daran haben, mit einem Kinderwagen durch die Straßen zu ziehen. Was für eine Selbsterniedrigung des doch eigentlich starken Geschlechts! Die stellen doch das klare Bild des Mannes infrage. Ist das nicht ein unwürdiges, feminines Verhalten? Und ganz schlimm sind diese Schwulen. Machen die nicht Liebe wie eine Frau zu einem Mann? Schwule müssen immer verweiblichte Männer sein. Nur daran erkennt man sie.
Sex mit einem Schwulen ist allenfalls noch denkbar, wenn man den warmen Bruder wie einen Mann von hinten rannimmt, oder? Dann ist man ja zumindest selber nicht schwul. Und außerdem: Wo kämen wir denn hin, wenn Männer nicht nur die Frauen, sondern Männer lieben würden? Oder noch schlimmer: sich als Dame von Welt verkleiden würden? Ja, wo kämen wir dann hin?
Na klar, in die dunklen, verruchten Spelunken der Halbwelt, wo Travestiekünstler große Film- oder Schlagerstars imitierten.
Orte verschämter Frivolität, an die sich der biedere Familienvater erst gar nicht traut. Nischen, in denen offen schwul lebende Menschen wenigstens eine Einkommensmöglichkeit hatten, auch wenn nicht die gesellschaftliche Anerkennung. Orte, an denen nicht das Entweder-Oder herrscht, sondern das Sowohl-als-Auch. Orte, an denen es auch zu Zeiten des Schwarz-Weiß-Fernsehens schon recht bunt zuging. Orte am Nachthimmel, an denen regenbogenfarbene Sterne leuchteten.
Wolfgang verließ früh das elterliche Haus, um eine Buchhändlerlehre zu machen. Sein Großvater meinte zwar, zu viel lesen schadet, aber da war es ihm schon egal. Den Eltern und dem Großvater hat er, der ansonsten doch so viel redet, nie erzählt, dass er homosexuell veranlagt ist. Warum auch, wenn die schon mit der Frauenemanzipation so große Probleme hatten. Sollten die doch ihr verschrobenes Weltbild behalten.
Die Schwarz-Weiß-Dämonen wurden seitdem gewaltig gepiesackt: Die Pornowelle samt sämtlicher Oswalt-Kolle-Filme und Schulmädchenreporte, eine damals noch progressive Alice Schwarzer, Rosa von Praunheim … all das und noch viel mehr mussten zur Schadenfreude Wolfgangs Vater und Opa seitdem ertragen.
Das Cabaret Chez Nous verließ in den 1970er die Unterwelt und fing an, durch die Stadthallen der Provinz zu tingeln. Noch immer hing etwas Verruchtheit ihrer Show an, aber davon ging die Welt wirklich nicht mehr unter.
Mary und Gordy bewiesen Anfang der 1980er, dass Travestie die Massen ansprechen kann, vor allen Dingen, wenn so viel mehr dahintersteckte – und zwar an Talent und Professionalität. Nach dem Tod ihres Bühnenpartners behielt Mary ihre große Popularität auch bei einem Publikum, das nicht gerade unter dem Verdacht stand, schwul zu sein. Nur Spötter behaupten, TV-Werbung für Marmelade machen zu dürfen wäre der Höhepunkt ihrer Karriere gewesen.
Lilo Wanders kam Anfang der 1990er via Bildschirm in die deutschen Wohnzimmer. Am Anfang übertragen aus Schmidts Tivoli in Hamburg. Das war dem Bayerischen Rundfunk noch zu schrill und blendete sich aus dem Programm. Später wusste unsere Lilo dann im Fernsehen schon offen und bundesweit über Sex zu reden.
Und jetzt und wahrhaftig: Die einzigartige Tatjana T. posiert bei strahlendem Sonnenschein heute auf dem Catwalk. In einem leuchtenden Fummel in der roten Farbe der Liebe mit einem riesigen weißen Stöckelschuh auf schwarzer Perücke ist sie heute die Königin der Pumps und schwebt über den Ku´damm in Richtung Savigny-Platz. Ein eindeutiges Zeichen, dass der Zug sich noch immer nicht in Bewegung gesetzt hat, denn eine Tatjana T. wird doch nicht zu spät kommen.
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