Sein Vater wollte ihn lange Zeit nicht mehr sehen. Die Ehe des Feuerwehrmanns wurde geschieden. Der Gutachter im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren konnte bei ihm nicht einmal im Ansatz pädophile Neigungen feststellen. Trotzdem sollte er sich in Therapie begeben. Das war die einzige Auflage der Staatsanwaltschaft, um ihn glimpflich davonkommen zu lassen. Ronny ließ das alles scheinbar ungerührt und er ertrug das Internat geduldig. Nach dem Abitur machte er dann auch noch die berufliche Karriere, gerade dieses Miststück, das mich in der Schule mit Macho-Sprüchen nervte!
Der CSD-Zug hat sich noch immer nicht vom Savigny-Platz in Bewegung gesetzt. Mittlerweile ist es am Straßenrand kaum noch möglich, einen Stehplatz in der ersten Reihe zu kriegen. Kathleen reicht mir die Sektflasche. Ich nehme dankend zwei, drei Schluck und frage die edle Spenderin: »Sag mal, ist das mit dem Kinderkriegen ernst gemeint?«
»Iris redet seit mindestens zwei Wochen nur noch davon Wenn das noch länger dauert, dann muss der Wunsch wohl doch sehr, sehr groß sein.«
»Und du?«
»Es gibt Schlimmeres als ein Kind«, antwortet Kathleen mir.
Dann nach einem Moment sehr nachdenklich: »Es ist wirklich ihr größter Wunsch. Trotzdem erscheint mir das elende Leiden eines Menschen schon mit der Zeugung zu beginnen. Vatersuche, Sex mit einem Mann … Du verstehst schon, was ich meine.«
Ihre liebste Gattin hat sich derweil auf den Rasen hinter der letzte Zuschauerreihe gelegt, dort, wo die Bäume keinen Schatten mehr werfen. Mit der aufgeschlagenen SIEGESSÄULE schützt sie ihr Gesicht vor der prallen Sonne. Wofür Szeneblätter alles gut sein können. Mit einem reinen Internet-Blog wäre das zum Beispiel nicht möglich.
»Noch wehre ich mich ja gegen Nachwuchs, aber ein Kind täte unserer Beziehung ganz gut. Wir sind schon zu lange auf den eingefahrenen Bahnen.«
Kathleen betrachtet Iris voller Hingabe. Dabei wird mir klar, dass es nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es eine weitere Regenbogenfamilie mit einem kleinen Sohn oder Tochter geben wird. Es fehlt nur noch der richtige Anstoß.
»Wer soll das Kind austragen?« frage ich.
Kathleen: »Keine Ahnung. Wahrscheinlich werde ich es wohl sein. Bin ja beruflich flexibler. Meine Chefin erlaubt einer beschäftigten Mutter ausdrücklich, ihren Säugling mit in die Kanzlei zu bringen. Sie will es dann zwar in erster Linie selbst verhätscheln, aber damit hätte ich kein Problem. Aber der Akt, der erst einmal zur Schwangerschaft führt, ist für mich egal in welcher Form einfach nur unvorstellbar. Vielleicht wird dann doch Iris die Schwangerschaft auf sich nehmen müssen.«
Durch die Menschenreihe auf der anderen Straßenseite des Kurfürstendamms zwängelt sich Wolfgang. Mit Ohrstöpseln in den Händen kommt er wieder zu uns zurück. Mit dem Allheilmittel gegen betäubenden Lärm durch schnarchende Liebhaber, Autos, Techno-Beats auf dem CSD oder auch kreischende Kinder.
»Künstliche Befruchtung mit Sperma eines anonymen Samenspenders kommt übrigens nicht in Betracht. Der Sprößling soll später einmal wissen, wer sein biologischer Vater ist!« stellt Kathleen klar.
»Habt ihr euch denn schon einen Vater ausgeguckt?«, frage ich deshalb diesmal ernsthaft, da ja für die beiden Lesben Kinder auf keinen Fall vom Pizza-Lieferservice gebracht werden sollen.
»Nö, es soll aber schon ein echter Mann sein, der beruflich erfolgreich ist. Kein Weichei. Jemand, der nicht auf jeden und alles Rücksicht nimmt. Sportlich und gut aussehend. Wir wollen ja mit dem Kind nachher auch richtig angeben können.«
Kathleen grinst mich an. Irgendwo her kenne ich doch dieses Männerbild: »Also Ronny?«
Kathleen lacht laut auf. »An den habe ich überhaupt nicht gedacht. Der ist uns dann doch wieder etwas zu schwul!«
»Aber homosexuell sollte der Vater doch sein!«
»Klar, Schwule und Lesben müssen doch zusammenhalten.«
Verstehe die beiden Lesben, wer will. Die wollen tatsächlich einen Schützenbruder als Kind erzeugt von einer kerligen Schwuppe?
Und wieder grinst sie mich so auffordernd an.
Bei der Hitze und der hohen Luftfeuchtigkeit perlen die Schweißtropfen jetzt von allen nur so von der Stirn. Wolfgang reicht allen von der Sonnenmilch, die er gerade in der Apotheke erstanden hat. Wir sollen gut geschützt den Tag überleben. Schutzfaktor 50. Höher geht es fast gar nicht.
Der Zug lässt heute besonders lange auf sich warten. Hin und wieder fragen wir Björn, der mit seinen 1,92 m aus der Menge herausragt, ob er schon etwas von der Parade sehe. Dann schaut er von seinem Handy hoch. Er sendet immer noch eine SMS nach der anderen an seinen Jan. Er blickt den Ku´damm entlang und schüttelt verneinend den Kopf. »Aber da kommt eine Mutter mit einem Kinderwagen und einem kleinen Jungen. Macht der einmal Platz!«, bittet er uns.
Die Frau, die ihre Haare mit einem Kopftuch und den Körper mit viel zu viel Stoff verhüllt hat, schiebt sich und ihre Familie dankbar durch das Spalier, das wir ihr auf dem Grünstreifen bereitet haben. Der kleine, schwarzhaarige Junge trottet hinterher und lächelt so herzallerliebst, dass jeder ihn sofort adoptieren möchte.
Ein Seufzen geht durch unsere Reihe.
»Unserem Kind würde ich auch so ein niedliches T-Shirt anziehen«, flüstert Kathleen mir zu, »der aufgedruckte Papagei auf dem Skateboard ist genauso süß wie der Junge selbst.«
Der Kinderwagen ist schon fast in der Joachimsthaler Straße in Richtung Zoo verschwunden, da dreht sich der kleine Mann noch einmal um, winkt und lächelt uns schelmisch zu.
»Was für ein niedliches Kind!«
Auch Wolfgang ist von dem Knirps fasziniert.
»Vielleicht ist es in Wirklichkeit der Satansbraten in Person!«, gibt Thomas zu bedenken.
»Definitiv nicht!« Da sind sich die anderen einig.
Engel oder Teufel? Gut oder Böse? Diese Frage ist meiner Meinung nach eigentlich albern, ideologisch verbrämt und so was von 1968er. Alles enthält sowohl positive als auch negative Eigenschaften in sich. Außerdem bewertet jeder das anders. Für Wolfgang wären die Kapitalisten böse, für mich kommen manche Vorstandsvorsitzende von börsenorientierten Unternehmen Superhelden gleich. Für einige ist der weiße Mann der gute Mann und der Schwarze der böse, bei anderen ist es genau umgekehrt und den meisten ist die Hautfarbe egal. Geht es dann um den Geschlechtsverkehr, ändern sich die Bewertungen erneut – wegen der angeblich enormen Schwanzlänge, die man den Männern mit dunklem Teint andichtet.
Kathleen bekommt ihren Einsatz: »Urinieren im Sitzen ist gut, im Stehen böse.«
Ich halte dagegen: »Es kommt nur darauf an, ob du dein bestes Stück beim Pissen mit der linken oder der rechten Hand hältst.«
Wolfgang und Thomas schauen mich völlig verdutzt an.
»Ist euch das noch nie aufgefallen? Einige Araber benutzen beim Wasseerlassen stets die linke Hand.«
Wolfgang: »Wo hast du das denn her?«
Ich: »Tut doch nicht so. Als ob ihr nicht auf den öffentlichen Toiletten mal zum Nebenmann geschaut habt.«
Die anderen kreischen: »Niemals. Dafür kommt man doch in die Hölle!«
Björn fragt völlig naiv: »Gibt es denn einen Grund, warum man beim Pinkeln seinen Penis nicht mit der rechten Hand halten sollte?«
Wolfgang vermutet: »Wahrscheinlich steht das in irgendeiner Schrift eines Propheten oder Heiligen oder Hadith oder sonstwo und jetzt gibt es genügend, die sich daran halten.«
Thomas etwas ungläubig: »Du meinst doch nicht ernsthaft, dass ein Gott sich mit solchen Fragen abgibt. Da geht es doch immer um das Große und Ganze.«
Wolfgang: »Natürlich nicht, solche Regeln werden von Menschen aufgestellt. Wenn das dann noch im Namen des Glaubens geschieht, dürfte es sich dann doch eher um reine Gotteslästerei handeln.«
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