Und Björn? Sein Gedanken sind nicht mehr bei uns. Sterne lassen ihn wegschweifen. Tätowierte Sterne, die er gerade anhimmelt.
Das Tattoo besteht aus sieben jeweils fünfzackigen Sternen. Ein etwas größerer, der sich oben auf der linken Schulter befindet, wird mit einer dickeren Außenlinie und in der Sterneninnenfläche mit einer gleichlaufenden, dünneren Innenlinie gezeichnet. Das kräuselnde Brusthaar auf dem nackten Oberkörper reicht bis an den einen Zacken heran. Zwei weitere Sterne führen eine gedachte Linie zum Schulterblatt. Die Himmelskörper werden lediglich durch Strahlen wiedergegeben, die von einer nicht gezeichneten Innenfläche abgehen. Auf dem Schulterblatt finden sich dann noch vier weitere Sterne, die zusammen ein Parallelogramm bilden und durch die Anzahl und Dicke der Linie auf unterschiedlichste Weise dargestellt werden.
Der Träger der Tätowierung ist anderthalb Kopf kleiner als Björn und steht direkt vor ihm, mit kurz geschorenen Haaren, Sonnenbrille, Dreitagebart und eben dem Sternenbild des Kleinen Bären auf der Haut.
Das Handy verschwindet im Rucksack und ist samt Jan schnell vergessen.
Den anderen fällt das gar nicht auf, so sind sie von Ronja und Edita fasziniert.
Nur wenige beachten auch das Baudenkmal aus der Wiederaufbauzeit. Zu Unrecht! Es steht an der Ecke Kurfürstendamm / Joachimstaler Straße. In seinem Rumpf befindet sich ein Kiosk, darüber als Brust und Kopf die seit der Einführung von Ampeln verwaiste Verkehrskanzel – eine Kabine und Aussichtsposten nicht unähnlich denen der Lebensretter in den Seebädern an Nord- und Ostsee. Die beiden Körperteile werden von einem Wetterdach getrennt, das noch sehr weit bis über die Eingänge zur U-Bahn und zu einer Toilettenanlage hinausschwebt. Luftig und leicht wie eine Feder will der Beton daherkommen. Elegant wie ein männlicher Pfau, der sein Schwanzgefieder langsam auffächert, ohne jedoch sein volles Rad zu schlagen …
Aus dem U-Bahn-Schacht unter dem Betongefieder entschlüpfen immer mehr bunte Paradiesvögel. Als Engel verkleidete Schönlinge und tatsächlich: selbst ein Teufel in Chaps und mit roten Hörnen ist dazwischen!
Ich komme noch immer nicht drüber hinweg, dass Ronny sich als Frau verkleidet. Gerade er. Er wird mir zwar dadurch
nicht sympathischer, aber immerhin etwas erträglicher. Aber nur ein klein wenig!
Dafür fängt Wolfgang einen neuen seiner mir unerträglichen Fortbildungskurse an. Als Antiquar hat er genügend Zeit, in tausenden von Büchern zu stöbern. Das angelesene Wissen macht ihn zur leiblichen Fassung von Google und Wikipedia. Mit der gleichen Zuverlässigkeit, also nicht immer hundertprozentig fundiert, aber immer parat, etwas sagen zu müssen, will er auf alles eine ausführliche Antwort geben, selbst dann, wenn überhaupt kein Suchwort eingegeben wurde. Plötzlich und unaufgefordert verbreitet er dann seine Thesen und hört nicht mehr auf. Er meint dann, etwas für unsere Bildung tun zu müssen. Das ist dann aber so lästig wie Spams oder manch Werbebanner auf einer Homepage, zumal fast alles, was er referiert, längst bekannt ist. Wenn ich Informationen benötige, kann ich auch selbst recherchieren. Dafür brauche ich Wolfgang nicht. Überall gibt es Cafés, in denen man ins Internet gehen kann. Ronny hat sogar schon ein Smartphone. Da soll man das World-Wide-Web bald immer mit sich herumtragen können.
Transvestitismus – das ist das Stichwort, über das Wolfgang uns jetzt belehren will.
Ronja stöhnt auf: »Ich bin keine Transe!«
Edita ergänzt: »Ein Transvestit hat den Zwang, sich in den Klamotten des anderen Geschlechts einzuhüllen. Von einem Zwang kann bei uns ja wohl wirklich keine Rede sein!«
Wolfgang: »Aber erregt es euch nicht sexuell?«
Ronja schon etwas genervt: »Nein, Frauenkleidung ist kein Fetisch von uns.«
Edita drückt auf die Repeat-Taste. »Um dir auch eine weitere blödsinnige Frage zu ersparen: Wir fühlen uns durchaus als Männer sehr wohl und sind auch keine Transsexuelle.« Sie hat dies wohl schon oft, viel zu oft erklären müssen.
Ronja: »Wir haben nur Spaß am Verkleiden. Mal in eine andere Rolle schlüpfen. Wow. Das ist Travestie – nicht mehr und nicht weniger.«
Dann fragt Edita Wolfgang: »Hast du dich noch nie verkleidet? Auch nicht als Kind als Indianer oder Cowboy? Nein, dann wird es aber höchste Zeit.«
Leider bleibt die Kindheit unseres Antiquars in diesem Punkt im Dunklen, obwohl die mich mehr interessieren würde. Wir erfahren nur, dass es dort, wo er aufgewachsen ist, keinen Karneval gibt, aber da legt er mit seinen geistigen Ergüssen erst richtig los.
Wir müssen uns anhören, dass der Begriff Transvestitismus von dem großen Sexualforscher Magnus Hirschfeld Anfang des 20. Jahrhunderts geschaffen wurde, und dass die UNO diese Veranlagung als Krankheit eingestuft hätte …
Der Exkurs will kein Ende nehmen. Jetzt versucht selbst Kathleen seinem Sermon eine andere Richtung zu geben: »Jeans-Hosen sind aber für Frauen erlaubt – oder ist das auch schon wieder Männerkleidung und kein Zeichen für einen Tausch der Geschlechterrollen?«
Iris macht sich auch offensichtlich lustig: »… und was ist, wenn ich einen Schotten-Rock trage? Ist ja nur den Herren vorbehalten, oder nicht? Leide ich dann auch schon unter Transsexualismus?«
Wolfgang korrigiert: »… nur, wenn du dich dauernd auch als Mann fühlst. Nur die, die es lieben und erregt, in den Kleidern des anderen Geschlechts herumzulaufen, sind Transvestiten«
Kathleen: »Wie funktioniert eigentlich Transvestitismus bei Naturvölkern, die nackt durch den Urwald stapfen – oder im Nudistencamp?«
Mein Denken klinkt sich hier aus. Mir fällt stattdessen der kleine Junge wieder ein, der vorhin unseren Weg mit seiner merkwürdig verhüllten Mutter kreuzte.
Vor meinen Augen ziehen dann plötzlich sämtliche Super-Muttis unserer kleinen Stadt vorbei, die sämtlich wie Ronja Kleidersäcke tragen.
Der missionarische Eifer, mit denen sie ihren Nachwuchs nur noch mit biologisch einwandfreiem Obst und Gemüse vom Ökobauern füttern, denn für das Kind muss es immer nur das Beste sein. Gummibärchen bleiben tabu. Die sind nur Gift.
Natürlich stiefelt sie als weibliche Inkarnation des Knecht Ruprechts zu jedem Elternabend in der Schule, um den Lehrer zu fragen, ob der auch schön artig war. Der Lehrer wohlgemerkt, nicht ihr kleiner Satansbraten.
Ansonsten ist Super-Mutti ausgelastet. Immer muss sie sich um ihren Sprössling sorgen, dass er rechtzeitig zum Kindergarten, zur Schule, zum Sport am Nachmittag oder zum Musizieren kommt. Sicherheitshalber fährt sie ihn durch die Gegend, denn da weiß sie, dass er überall heil ankommt.
Mit dem unerschütterlichen Glauben einer amerikanischen Tea-Party-Anhängerin wird der Alkohol verteufelt. Und der Tee muss ungesüßt sein. Das versteht sich doch von selbst.
Kathleen schaut mich mit dieser Mischung aus schüchternem Bitten und provokanter Aufforderung an.
Dieser intensive Blick mit den immer größer werdenden Augen wie die eines Kindes vor dem Weihnachtsbaum.
Jetzt lächelt sie mich schon wieder so fragend an. Umwerfend zwar und genauso, wie manch ein Mann damit einen anderen flach legt, aber Kathleen ist und bleibt eine Lesbe.
Was soll das?
Plötzlich ist es mir dann doch klar, was sie von mir will.
Aber ich Sex mit einer Frau? Für den Nachwuchs von Super-Muttis? Niemals!
»Übrigens, als Samenspender stehe ich nicht zur Verfügung. Ich bin aus dem Rennen«, kommt es aus mir heraus.
Kathleen schnippisch: »Dich hätte ich sowieso nicht gefragt.«
Hätte sie doch!
»Die Welt besteht nicht nur aus dem Gegensatz von Mann und Frau.«
Wolfgangs Stimme dringt zurück in mein Bewußtsein:
»Die Welt ist nicht Schwarz-Weiß!«
Er ist immer noch bei seinem Vortrag, und er ist sauer, weil ich ihm nicht zuhöre. »Dem Herrn ist ja alles egal!
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