Thomas hat einmal gelästert: »Wenn Kathleen und Iris alt sind, werden sie auf Kissen im Fenster liegen und in geblümten Dederon-Kitteln das Geschehen auf der Straße beobachten.«
Iris hat das gehört und darauf empört erwidert: »Wir haben überhaupt keine Küchenschürzen. Wozu auch? In Berlin gibt es an jeder Ecke einen Lieferservice, der einem lecker Essen bringt. Nebenbei sind die Pizza-Boten, die wir kennen, alle hetero. Von wegen wir hätten keinen Kontakt mehr zur nichthomosexuellen Mehrheitsgesellschaft!«
Die beiden Mädels erscheinen wie immer im Partnerlook – derselbe Kurzhaarschnitt, Tops mit der Aufschrift 2QT 2B STR8 – zu schön, um Hetera zu sein – und in knallengen Jeans.
Aber irgendwie ist das heute die einzige Gemeinsamkeit, die die beiden haben. Dass es immer auch Unterschiede zwischen zwei Menschen gibt, versteht sich von selbst. Zum Beispiel, dass Kathleen im Gegensatz zu Iris nie einen BH trägt, sodass ihre ausufernden Brüste bei jedem Schritt lustig mitwippen oder dass Iris ein Kopf kleiner und ihr Körper wesentlich zierlicher ist als der ihrer Freundin. Gegensätze ziehen sich ja schließlich an.
Heute aber fehlt es an … wie soll ich es sagen, einer gewissen Harmonie zwischen den beiden Lesben. Sie streiten sich schon seit Tagen, erfahren wir.
»Iris will unbedingt ein Kind.« schmollt Kathleen.
Die Gattin: »Wenn die Heteros schon auf Familienplanung verzichten, dann sollten wenigstens wir an Nachwuchs denken.«
Kathleen: »Familienplanung? Reicht dafür nicht auch ein adoptierter Schäferhund. Könnten wir auch aus dem Tierheim holen.«
Iris ist sauer und fast den Tränen nahe.
Thomas fragt: »Habt ihr denn schon einen Vater?«
Kathleen schnippisch: »Iris will heute ja scheinbar auf Suche nach einem Samenspender gehen. Jungs, will nicht einer von euch?«
Iris blickt demonstrativ zur Seite.
Ich schlage vor: »Warum fragt ihr nicht euren Pizza-Boten?«
Beide schauen mich fassungslos an.
Dann antworten sie unisono: »Weil der nicht schwul ist!«
Die Zeit wartet auf niemand`. Außer auf Ronny, dem mir so unsympathischen Streber, der mit mir zwei Jahre in dieselbe Schulklasse ging. Außer ihm ist niemand mehr aus unserer Stadt auf dem Alex erschienen.
Die Zeit wartet auf niemand`. Wir auch nicht. Auch nicht auf den perfekten Samenspender!
Mit der S-Bahn geht es darum jetzt zum Bahnhof Zoo.
Die Schwulen und Lesben unserer kleinen Stadt sollen mit diesem Tagesausflug nach Berlin ein stärkeres Zusammengehörigkeitsgefühl bekommen.
Das hat Wolfgang proklamiert, als er sich entschied, mitzufahren.
Wieder geht es ihm nur um das politische Bewusstsein, das uns angeblich abgekommen sein soll.
Die jungen Schwulen wollen doch nur noch Spaß, behauptet er ständig.
Ja, aber warum denn auch nicht? Spricht denn etwas dagegen? Dafür kommen wir raus, während er in seinem Antiquariat herumphilosophiert und versauert.
In der S-Bahn zum Bahnhof Zoo vertritt Wolfgang lautstark seine Thesen, wohl auch, um uns irgendwie politisch auf die Parade einzustimmen.
»Wie haben die Steinzeitmenschen die wochenlange Jagd überstanden, während die Frauen im Hause die Dinkelkörner zählten?«, fragt er uns stehend, sich an den Haltegriff klammernd, aber mit dröhnender Stimme, sodass der ganze Wagen mithören kann. Eine Wahlkampfrede, die die anderen Fahrgäste nur bedingt amüsiert, eigentlich eher belästigt, so wie ihnen sonst die Arbeitslosen, die ihre Zeitungen verkaufen wollen, oder bettelnde Straßenmusikanten schon während der Fahrt die gute Laune rauben.
»Na? Tag für Tag nur hinter dem Mammut her. Wie langweilig für die Spermaproduktion! Ohne Sex wäre das doch auf die lange Zeit die Hölle gewesen! Zur Befriedigung der Triebe in der männlichen Jagdgesellschaft hat die Natur den Schwulen geschaffen. An irgendwem müssen die Hormone sich abarbeiten können. Dort, wo die Homosexualität unterdrückt wird, muss es folglich immer zum Krieg zwischen den Herrn kommen. Darum kann auch heute noch jeder treue Familienvater, selbst der hier in der S-Bahn sitzt …«
Dabei schaut er sich ausgiebig im Abteil um. Nicht nur ich, mittlerweils sind alle männlichen Fahrgästen über seinen Auftritt mehr als peinlich berührt. Wolfgang sollte den Morgen wirklich nicht mit Sekt beginnen.
Mit selbsteuphorisierender Stimme fährt er fort: »Darum kann jeder Mann auch heute noch mit einem anderen Mann auf seine Kosten kommen. Sie müssten es nur endlich alle einmal wagen …«
Es folgt eine theatralische Pause.
Will Wolfgang tatsächlich jetzt wirklich alle Heteromänner zur Homosexualität bekehren? Der Gedanke ist zu schrecklich. Auch in dieser S-Bahn sitzt so ein dicker, feister Vater, der Sachbearbeiter im Job-Center sein könnte, oder da hinten, diesen schmierigen Klotz, so einer wie ich ihn auch aus dem Erdgeschoß bei mir im Haus kenne. Es gibt zu viele Heteros, bei denen ich gerade froh bin, dass sie nicht schwul sind. Sie wären eine Schande für unsereins. Außerdem ist unser Buchhändler nicht konsequent. Hat er auf der Hinfahrt nicht noch gegen jegliche Umpolung zu einer bestimmten sexuellen Ausrichtung gewettert?
Aber Wolfgang setzt unbeirrt und mit einer immer schriller werdenden Stimme fort: »… und natürlich muss es auch die Lesben geben. Als körperliche Freude für die am Herd
gebliebenen Ehefrauen. Der Zickenkrieg, den es sonst in den Dörfern gegeben hätte … nicht auszumalen!«
Iris fällt eher dazu und nur mit Schrecken der Frauen-Workshop »Weibliche Harmonie durch Yoga« vor ein paar Wochen ein, an dem sie teilnahm, um sich im spirituellen Sinne selbst etwas näher zu kommen. Bei dem Kurs flogen ab einem gewissen Zeitpunkt zwischen den Lesben nur so die Fetzen. Eifersuchtsdramen. Stutenbissigkeit. Alles, was das nach Meditation suchende Frauenherz gerade nicht begehrt. Sie ist mitten in einer Übung heulend weggerannt. Irgendwo in einer Kneipe in Charlottenburg hat sie sich mit Wodka-Cola volllaufen lassen. Was dann geschah? Weiß der Teufel! Ob der Absturz wirklich völlig hoffnungslos war, konnte sie am nächsten Morgen nicht einmal von dem Kater in ihr erfahren. Den hatte sie dummerweise recht früh mit Aspirin getötet.
Iris zu Wolfgang: »Hast Du ‘ne Ahnung!«
Mehr kann sie nicht mehr sagen, denn wir müssen aussteigen.
»Noch schlimmer wäre ein Vortrag von Wolfgang zum Weltfrieden gewesen!«, werfe ich noch ein und ernte dafür von ihm einen bösen, eisigen Blick.
Nebenbei: Ich glaube nicht, dass in der Steinzeit der Mann lange von seiner Frau getrennt war. Die sind doch wohl eher gemeinsam durch die Steppe gezogen. Trotzdem gab es auch in der Frühzeit Homosexualität. Warum die Natur die erfunden hat, ist doch eigentlich egal. Hauptsache: Ich bin schwul!
Ronny findet dagegen Wolfgangs Thesen tatsächlich diskussionswürdig. Da weiß ich wieder, warum ich meinen ehemaligen Mitschüler immer doof fand.
Vom Bahnhof Zoo bis zum Kurfürstendamm sind es keine fünf Minuten Fußweg. Eine Horde Schwuler und Lesben
kann dafür Ewigkeiten brauchen.
Das fängt schon damit an, dass Wolfgang zunächst den falschen Ausgang, den zur unauffälligen Jebensstraße, nehmen will. Der Bahnhof Zoo war während der Teilung Deutschlands der Ankunftsort sämtlicher Bundesbürger, die nach West-Berlin einreisten. Heute ist er nur noch ein Regionalbahnhof. Die Durchgangshalle und insbesondere die verschwiegene Rückseite blieben für etwas berühmt und berüchtigt, das anscheinend heute noch immer einige Männer anzieht:
»Die Macht der Gewohnheit«, lästert Thomas, »dort stehen ja auch die Stricher.«
Dabei hat sich Wolfgang noch nie sonderlich für die Drogenjunkies oder die jungen Männer aus Rumänien, Albanien oder Mazedonien interessiert, die sich in der Jebensstraße für Geld anbieten. Nach seiner Vorstellung reine kapitalistische Ausbeutung durch die Freier. Dem gegenüber sehen die Stricher lediglich die Möglichkeit, aufgrund des Elends unbefriedigter Herren schnell an Geld zu kommen. Einige von den männlichen Prostituierten sind hundertprozentig heterosexuell veranlagt. Die haben vermutlich noch Frau und Kinder in den Dörfern irgendwo hinter den Karpaten. Trotzdem stehen sie lieber am Bahnhof als sich in der Heimat dem täglichen Kampf gegen die Armut auszusetzen.
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