Der Zug rollt pünktlich am Bahnsteig ein. Wolfgang betont, dass es Zeiten gab, in der dies keiner Erwähnung bedurft hätte. Wir steigen ein und quälen uns in die für die lange Fahrt viel zu unbequemen Sitze. Diese sind einer der Gründe, warum wir nur noch ein- bis zweimal im Jahr mit der Bahn reisen. Die Zugbegleiterin ist eine stadtbekannte Lesbe, die alle nur unter ihrem Profilnamen Aurora kennen, die sie in den einschlägigen Internetforen nutzt. Ihren richtigen Namen kennen wir nicht. Sie gibt ihn standhaft nicht preis.
»Aus Rücksicht auf die türkischstämmigen Großeltern«, heißt es immer, »damit kein Gerede an deren Ohren gelangt.« Andere behaupten, es wäre aus Angst vor den Neonazis.
Sie hat uns schon beim Einsteigen entdeckt und zugewunken. Als sie zu uns kommt, um die Fahrkarte zu kontrollieren, bringt sie Wolfgang eine Zeitung mit, die jemand in einem anderen Abteil liegen gelassen hat, damit es ihm während der Fahrt nicht langweilig wird.
Sie gibt uns den Segen für den Tag: »Viel Spaß beim CSD!«
Dann beteuert sie noch, sie wäre auch gerne mitgefahren, aber sie müsse ja, genauso wie Jan, arbeiten. Emsig und voller Tatendrang zieht sie weiter zu den nächsten Reisenden und kontrolliert deren Fahrkarten. Auf dem metallic-grauen Namensschild an der Bluse, das sie heute angeheftet hat, steht: Fr. Aydın. Ihren Vornamen haben wir auch heute nicht erfahren, aber immerhin hat die Bahn ihren Nachnamen geoutet. Aurora zuliebe werden wir ihn sofort wieder vergessen.
Der feuerrote Streifen, bestehend aus der Diesellok der 218-er Reihe und mehreren Doppelstockwagen, zieht gemächlich durch den Morgen in den Tag hinein.
Vorbei an einer rot-braunen Kuhherde, die an einem Abhang grast, vorbei an Wäldern und Wiesen. Hinab in die Norddeutsche Tiefebene. Die Landschaft ändert sich. Ein anderes Bundesland. Riesige Getreide-, Raps- und Maisfelder wechseln sich jetzt ab. Vorbei geht es weiter an vergessenen Bahnhöfen beliebiger Dörfer, die seit der Wende an einer dramatischen Entvölkerung leiden. Der Niedergang von Regionen, den man sonst nur aus Kriegen, Seuchen und Katastrophen kennt. Der Aggressivität, mit der die Arbeitskräfte nach Bayern oder Baden-Württemberg weggeworben wurden, konnten die ehemaligen DDR-Gebiete auch dank der Treuhand nichts mehr entgegensetzen. Jetzt fehlt es an fähigen Bürgern vor Ort, die das Land wirtschaftlich voranbringen könnten, und an Kapital. Allein die vielen Windräder geben ein Zeichen der Hoffnung, auch wenn die meisten von ihnen heute stillstehen. Keine Luftbewegung. Flaute.
Während die Landschaft am Fenster vorbeizieht, liest Wolfgang ausgiebig die Zeitung. Wenn ich mich einmal über das Weltgeschehen informieren will, dann gehe ich ins Internet. Da ich weiß, dass für schwul auch die amerikanischen Wörter gay und queer im Gebrauch sind, ist es einfach, über eine Suchmaschine interessante Seiten im weltweiten Netz zu finden. Für mich haben Printmedien etwas Anachronistisches an sich. Das wäre wie der Austausch von Rauchzeichen zu einem Zeitpunkt, als es bereits die berittenen Herolde gab, die auf den Marktplätzen die Gesetze des Kaisers verlasen. Die Tageszeitungen werden vermutlich aussterben. Ganz sicher ist das aber nicht, denn es gibt tatsächlich noch Menschen wie Björn. Der geht regelmäßig in die Stadtbibliothek, um dort in der ZEIT, im STERN oder der GALA zu blättern. Nicht einmal die BRAVO verschmäht er, obwohl er für dieses Magazin wirklich schon ein wenig zu alt ist.
Thomas fragt Wolfgang, ob etwas Interessantes in dem Tagesblatt steht.
Er fasst den gerade gelesenen Artikel zusammen: »Der Kreisvorsitzende der NPD ist ein sehr einsamer Mensch. Niemand will mit ihm reden.«
Thomas hakt sofort nach: »Haben die demokratischen Parteien auch hier entschieden, sich nicht mehr mit den Neonazis auf Diskussionen einzulassen? Das finde ich einerseits gut so. Die sind für andere Meinungen sowieso taub, genauso wie die Anhänger irgendwelcher Verschwörungstheorien. Andererseits glaubt die braune Brut wegen der Ausgrenzung, sie wären Märtyrer. Das kann den geistigen Unfug ungemein verstärken.«
Wolfgang nickt zustimmend, während seine Augen noch immer auf den Artikel geheftet sind.
Thomas weiter: »Aber die faschistischen Gefolgsleute wissen ja nicht einmal, was eine Diskussion ist. Den Begriff haben die doch noch nie gehört. Wahrscheinlich nicht einmal der Kreisvorsitzende. Sinnlos, denen mit guten Argumenten zu kommen.«
Wolfgang blickt hoch. Nach einer theatralischen Pause, fast triumphierend: »Eine Frau an seiner Seite, mit der er reden könnte, gibt es auch nicht! Hat es wohl auch nie gegeben!«
Björn aus seinem Halbschlaf erwachend: »Mein Gott, er ist schwul.«
Thomas springt darauf an: »Er ist den ganzen Tag mit jungen, aber dafür äußerst unattraktiven Männern zusammen, die nichts zu sagen haben.«
Björn: »Okay. Er ist nicht schwul. Er ist selbst hässlich und verklemmt und kriegt darum keine Frau ab.«
Wolfgang ergänzt: »… und ganz schön dämlich. Einer Ideologie anzuhängen, bei der man sich das Frauenangebot selbst so extrem einschränkt, dass man leer ausgehen muss.«
Ich: »Wie meinst du das?«
Wolfgang: »Mädels aus der Ukraine, Polen oder die kleinen Thaimädchen sind für ihn ja tabu. Die sind halt nicht deutschnational genug.«
Ich: »Bei so einem unerfüllten Triebleben muss man ja auf dumme Gedanken kommen.«
Wolfgang und Björn stimmen mir zu. Ich denke da schon weiter: »Dort, wo die Neonazis an Einfluss gewinnen, entvölkern sich somit die Gegenden langsam von selbst. Bei so wenig Sex!«
Das bestätigt mir, dass politisches Engagement auch gegen das braune Gesocks Zeitverschwendung ist. Alles regelt sich von selbst.
Nach einem kurzen Innehalten liest Wolfgang, selbst etwas überrascht, weiter vor: »Der NPD-Kreisvorsitzende hat zweiunddreißig Semester Jura studiert und dann das erste Staatsexamen gemacht.«
Der Kommentar von Thomas: »Was für eine Intelligenzbestie! Da hat er wenigstens etwas, worauf er stolz sein kann. Schließlich schafft es nicht jeder, so lange zu studieren.«
Ich hatte mit den Rechten Gott sei Dank noch nie zu tun. Entweder gibt es sie bei uns nicht mehr oder sie sind unsichtbar geworden. Anders Wolfgang und Thomas, die vor langer Zeit einmal von Glatzköpfen, die so viel Haare auf wie Verstand unter der Schädeldecke haben, als Ziel eines Übergriffs auserkoren wurden.
Im hinteren Bereich des Buchantiquariats gibt es einen heimeligen Raum, die sogenannte Katzenstube. Der Name stammt nicht von irgendwelchen schwarzen Katern, die zwischen den Buchregalen oder auf der Fensterbank eingerollt schlummern und nur noch in ihren Träumen Mäuse und kleine Vögel fangen. Wolfgang findet die ach so süßen Miezen sogar ausgesprochen langweilig. Zudem reagiert er auf deren Haare allergisch. Zur Eröffnung des Ladens hat ihm aber ein befreundeter Fotograph eine Unmenge von ausdrucksstarken Katzenportraits geschenkt. Er war der Meinung,
an einem Ort, in dem die Vergangenheit durch die Schrift gegenwärtig sein soll, müsse auch der Geist von Katzen, wie der des Katers Murr oder der von Rumpleteazer, zumindest bildlich anwesend sein. Schließlich haben diese mehrere Leben und sind damit bedeutungsvoller als die menschlichen Romanhelden. Die der Stube den Namen gebenden Fotographien hat Wolfgang an fast jede freie Stelle der Wände gehängt, aber nur, weil er damals keine andere Dekoration hatte. Ursprünglich sollten in dem Raum regelmäßig Lesungen stattfinden. Mangels Interesse an guter Literatur und Wolfgangs Schwierigkeit, geeignete Autoren zu finden, die in der Provinz ihre Bücher vorstellen wollten, schlief dieses Vorhaben schnell wieder ein. Die Stube mit seinen circa zwanzig Plätzen an den Tischen, auf denen sonst Bücher gestapelt werden, wurde dennoch zu einem Ort des geselligen Beisammenseins. Wolfgang hatte ihn jeden ersten Freitag im Monat am Nachmittag kostenlos der örtlichen Schwulen- und Lesbengruppe überlassen, die ihn für ihren sogenannten »Kaffeeklatsch« nutzte. Den Verein gibt es schon lange nicht mehr. Aber es sind immer noch genügend Homosexuelle aus der kleinen Stadt und aus den Dörfern der Umgebung, die sich Anfang des Monats im Antiquariat einfinden. Alle Getränke stellt jetzt Wolfgang zum Selbstkostenpreis. Ein wichtiges Argument auch für die ganz Jungen, sich dort regelmäßig einzufinden.
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