Ich will Party. Darum fahre ich heute nach Berlin.
Nachdem wir in Magdeburg umgestiegen sind, öffnet Wolfgang endlich die erste Sektflasche, aus der wir reihum trinken. Geht doch – auch ohne Politik!
*
Brötchen, Butter, Honig, Johannisbeergelee, zwei Scheiben Gouda, ein hartgekochtes Ei und natürlich Kaffee. So sieht ihre Morgenmahlzeit aus, das sie sich am Buffet zusammengestellt hat. Dazu noch ein kleines Glas Champagner, welches ihr die Bedienungskraft direkt an ihren Platz bringt. Ein Geschenk an sich selbst, das sie sich nur äußerst selten macht, obwohl sie es sich dank eines mehr als beträchtlichen Vermögens durchaus täglich leisten könnte. Aber jeden Morgen mit einem Sektfrühstück zu beginnen, wäre ihr einerseits zu dekadent und bliebe bei ihr leider nicht ohne Nebenwirkungen. Außerdem ziemt sich das nicht für eine Dame.
Der Frühstücksraum hat den morgendlichen Andrang bereits hinter sich. Die Messer klappern nicht mehr auf den Tellern. Das Gurgeln der Kaffeemaschine verklingt langsam. Die meisten Gäste des Nobelhotels in der Nähe des Kurfürstendamms haben das Haus bereits verlassen. Einige von denen besichtigen bereits die Sehenswürdigkeiten Berlins. Andere suchen die in einem anderen Stockwerk gelegenen Konferenzräume auf, um sich in der Teilnehmerliste der betreffenden Tagung einzutragen, die an diesem heißen Wochenende stattfindet. Wenige sind abgereist.
Kurz vor Schließung des Buffets kann die Dame das Frühstück in Ruhe genießen.
Hin und wieder wirft sie schon einmal einen Blick auf die Schlagzeilen der Tageszeitung, die noch gefaltet neben dem Brötchenkorb liegt. Das Blatt lag kostenlos im Foyer aus.
Sie will es noch lesen, aber erst später. Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, das Weltgeschehen an sich heranzulassen.
Sie hebt das Champagnerglas und prostet sich selbst zu: »Auf diesen Himmlischen Geist, der für mich den Reichtum dieses Universums erkämpft!«
Dann nach oben in Richtung Weltall: »Na ja, vielleicht lerne ich dich einmal persönlich kennen … und das möglichst noch vor meinem 35. Geburtstag!«
Die Dame will nicht mehr allein reisen.
Plötzlich fliegt ein Space Shuttle, geführt von einer Kinderhand, am Honig und Käse vorbei, um dann zur Landung neben der Kaffeetasse anzusetzen. Der Astronaut des Raumschiffs trägt ein weißes T-Shirt, auf dem ein bunter Papagei auf einem Skateboard surft. Der kleine Junge mit seinen glänzend schwarzen Haaren, der teakholzfarbenen Haut und den riesigen dunkelbraunen Augen schaut die Dame bittend an. Statt nach unbekannten Welten sucht er jemanden, mit dem er nur einfach spielen kann. Völlig hingerissen von dem niedlichen Kind wendet sie sich zu ihm: »Du hast aber ein schönes Spielzeug.«
Als Antwort nur ein fragender Blick.
Sie versucht es erneut: »Wenn du groß bist, willst du bestimmt ins Weltall fliegen.«
Wieder kein Wort. Nur diese großen Kulleraugen, die die Welt verzaubern.
Jetzt eilt der Vater herbei: »Entschuldigen Sie bitte die Störung! Er versteht kein Deutsch.«
Ein göttlich gut aussehender Mann in einem nachtblauen Seidenhemd kommt zu ihrem Tisch. Ihr gefallen nicht nur die schwarzen Haare auf seinem Handrücken, die bis zu dem kleinen Finger reichen. Starke Hände, die ein Kind beschützen können. Auf seinen breiten Schultern sitzt die kleine Schwester des Astronauten. Mit ihr war er gerade durch den Frühstücksraum spaziert, als er für einen Moment seinen Sohn aus den Augen verlor.
Ein Familienmensch durch und durch, so denkt die Dame. Jetzt entdeckt sie auch die dazu gehörige Ehefrau, wie sie fast geistesabwesend am Fenster steht und hinab auf die Straße sieht. Eine Frau, die nicht wirklich schön ist. Die aschgraue Haut, die etwas zu große Nase und die ein wenig eingefallenen Wangen geben ihr Gesicht eine unnötige, störende Härte. Ihr fehlt das passende Make-Up, erkennt die Dame am Frühstückstisch sofort. Der Rest des Körpers ist in Unmengen von Seiden- und Wollstoffen verhüllt, das Haar hinter einem Kopftuch versteckt. Modisch der reinste Horror. Ein Outfit kurz vor der Burka. Ein Schrecken für jede emanzipierte Frau. Die Familie kommt irgendwo aus dem Mittleren Osten, vielleicht Iran, Pakistan, den Vereinigten Arabischen Emiraten oder Indien.
Der kleine Junge schmiegt sich von der einen Seite an seinen Vater, blickt zu ihm nach oben und zu seiner Schwester und fragt ihn etwas in einer Sprache, die sie nicht erkennt. Das Space Shuttle auf der anderen Seite hält er noch immer fest in der Hand.
»Wissen Sie zufällig, ob heute in Berlin etwas los ist?«, gibt der Vater die Frage seines Sohnes an die reiche Dame weiter.
In der Hauptstadt gibt es immer viel zu sehen und zu erleben, sodass sie einen Augenblick überlegen muss, was sie überhaupt sagen soll. Diese überflüssige Frage hätte sie bei jedem anderen Mann als plumpe Anmache gewertet. Ein Blick auf die Zeitung, dann antwortet sie, ohne weiter nachzudenken nur: »CSD!«
Aber die drei Buchstaben scheinen dem Vater nichts zu sagen. Er schaut sie – wie kurz vorher sein Sohn – mit großen dunklen Augen an. Genau so hinreißend.
Sie wiederholt: »Heute findet der CSD-Umzug statt.«
Eigentlich weiß das doch heute jeder, der nicht hinter dem Mond lebt: Der CSD steht für Christopher Street Day, an dem an die Ereignisse vom 28.06.1969 in New York erinnert wird: Die Polizei schikanierte mal wieder mit einer
ihren willkürlichen Razzien die Homosexuellen. Die Schwulen wehrten sich und lieferten sich über mehrere Tage Straßenschlachten mit der Polizei. Hauptschauplatz war die legendäre Christopher Street. Die Homosexuellenbewegung war wiedergeboren, nur schien das damals die Weltöffentlichkeit nicht sonderlich interessiert zu haben.
Das Ereignis des Jahres 1969, von dem die Welt redete: Neil Armstrong betrat am 21.07.1969 als erster Mensch den Mond. Die Erdbevölkerung lernte, dass der Mond ein unwirklicher, lebensfeindlicher Ort ist. Die Schwulen lernten, dass mit eigenen Rechten die Erde ein Ort sein kann, auf dem es sich lohnt, zu leben. Von der Mondlandung spricht heute kaum noch jemand. Es gibt zwar noch Raumschiffe als Spielzeug für die Kinder und hin und wieder eine sonstige kleinere Erinnerung. Die Star Wars-Filmreihe hat schon nichts mehr damit zu tun. Die gehört eher in den Bereich Fantasy. Aber an die Unruhen in der Christopher Street dagegen wird in vielen Städten jedes Jahr mit immer lauteren, bunteren Umzügen erinnert, wenn sie woanders auch »Regenbogenparade« oder »Gay Parade« heißen.
Gay Parade – mit dieser Bezeichnung kann der junge Vater etwas anfangen. Er wirkt sofort sichtlich nervös.
Mit etwas aufgeschreckter Stimme stammelt er: »Nein, nein, ich meine etwas, wo ich meine Frau und meine Kinder allein hingehen lassen kann.«
Wenigstens faselt er jetzt nicht, in seiner Kultur sei Homosexualität ein schweres Verbrechen, denkt die Dame. Trotzdem hat sie etwas an seiner Reaktion gestört.
Heißt das eben Gesagte nicht, es ist allein der Mann, der der Frau erlaubt, etwas zu tun? Er entscheidet, wo der Rest der Familie sich heute aufhalten darf?
So verliert bei ihr jeder Mann schlagartig an Attraktivität.
»Die verstehen kaum Deutsch, und ich kann sie nicht begleiten. Ich habe noch etwas anderes vor,« versucht er sich zu retten. Sie lässt diese etwas inhaltsleere Erklärung durchgehen, aber nur, weil er dabei wieder so hinreißend lächelt.
Ihr fällt spontan der Zoo ein. Tiere sind für alle Kinder in der Welt immer vor allen Dingen niedlich. Außerdem ist er nicht weit vom Hotel gelegen. Wenigstens fragt er jetzt seine Kinder und seine Frau, die zum ersten Mal lächelt. Die Ehegattin antwortet ihm mit einer schönen Sopran-Stimme, die sie bei vielen blinden Männern zu einer Sex-Göttin aufsteigen ließe. Die Tochter stammelt mit Begeisterung ein paar unverständliche Worte vor sich hin. Der Vater bedankt sich: »Meine Tochter ist schon ganz aufgeregt. Sie will unbedingt den kleinen Eisbären sehen, von dem die ganze Welt redet. Meine Frau ist übrigens Ornithologin, ihre Freude sind Vogelbestimmungen. Gemeinsam halten wir übrigens Greifvögel für die bei uns sehr beliebten Falkenjagd und ein paar dressierte Exemplare aus der Familie der Corviden.«
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