„Guten Tag, kleiner Löffler“, flüsterte sie. „Ich möchte dir gerne etwas erzählen, aber... dann kann ich dich nicht mehr töten, das weiß ich. Und dafür hätte niemand Verständnis - außer dem Weisen natürlich.“
Lange saß sie am Boden und hielt den Löffler umklammert. Schließlich entschloss sie sich, einen Versuch zu wagen. Warum hatten die Felsen sie sonst durchgelassen? Sie war Geschichtenerzählerin. Zögernd sendete sie ihren Geist in die Dunkelheit, auf der Suche nach des Löfflers Geist. Als sie ihn tatsächlich traf, war es so unverhofft, dass sie erstarrte. Der Geist war klein und schwach und wurde immer dünner. Ari brauchte einige Zeit bis sie begriff, dass der Löffler starb.
Guten Tag, kleiner Löffler , dachte sie zärtlich und streichelte sein Fell. Diesmal erstarrte der Löffler und streckte seine langen Ohren empor. Ari war fasziniert, als sie spürte wie sein Geist ihr antwortete. Aber er sprach nicht in Worten, er überschüttete sie mit Bildern. Ari war überwältigt. Eine Sturzflut von Farben und Bewegungen brach über sie herein. Sie sah langes, grünes? Zeug auf brauner? Erde?, viele andere Löffler und etwas strahlend Helles hoch oben in einem endlosen blau? Ari ertrank in den Farben.
Als sie wieder zu sich kam, merkte sie, dass sie einen noch warmen, aber toten Körper in den Händen hielt. Leise fing sie an zu weinen. Niemals hatte sie es sich so vorgestellt, niemals!
Nach einiger Zeit stand sie auf. Sie musste zurückkehren - und sie brauchte ihren Fund nicht zu töten. Ari presste den toten Löffler an sich und trat zögernd an den Felsen. Tief atmete sie durch und glitt hinein. Sie brauchte sich nicht zu orientieren. Die Felsen lenkten ihre Richtung und schließlich trat sie durch den Sucherstein wieder zu ihrem Volk, welches andächtig auf sie wartete.
Als das Mädchen heraustrat, stürzten sich alle auf sie, um ihr auf die Schultern zu klopfen. Der tote Löffler wurde begeistert herumgereicht, bis er schließlich bei dem Ersten landete, welcher ihn in Verwahrung nahm.
Ari konnte sich endlich befreien und ging zu dem Weisen. Sie sah ihm in die Augen.
„Ich habe mit dem Löffler geredet“, flüsterte sie. Der Weise riss ungläubig die Augen auf. Ari brach wieder in Tränen aus. „Ich konnte ihm keine Geschichte erzählen, mir fehlten die Bilder. Aber er - er hat mir seine gezeigt.“
Der Weise nahm sie tröstend in seine Arme.
„Kleine Ari“, murmelte er und streichelte sanft ihren Kopf. „Wenn du das sehen durftest, solltest du jubeln und nicht weinen. Denn du bist die erste seit langer Zeit, und ich glaube, du wirst auch die letzte unter uns sein.“
Ari wurde eine rastlose Sucherin. Ständig war sie unterwegs und nutzte jede sich ihr bietende Möglichkeit mit den Tieren, die sie fand, zu kommunizieren. Zu ihrer Erleichterung war sie nie gezwungen, ein Lebewesen zu töten. Sie starben in ihren Armen und Ari spürte, dass diese letzten „Gespräche“ den Tieren das Sterben leichter machten. Ihre Gedanken endeten ruhig und friedlich. Viele der Bilder, die Ari zu sehen bekam, wiederholten sich, doch immer wieder erhielt sie neue Farben und Eindrücke, die ihre Neugier noch mehr anstachelten. Zwar kehrte sie nie mit leeren Händen zurück, aber ihre Streifzüge wurden immer länger. Wenn ihre Leute darüber murrten, dann lächelte der Weise wissend vor sich hin und dachte bei sich Sie sucht die Sonne, und ich glaube sie wird sie auch finden. Eines Tages...
Ari durchstreifte lange Zeit die Felsen und erforschte ihre Tiefen, so weit es ging. Und irgendwann kam eine Zeit, da die Felsen sie nicht mehr leiteten und Ari sich frei und selbständig ihren Weg suchte.
Mit sechzehn Jahren betrat Ari zum ersten Mal die Erdoberfläche. Es war Nacht.
Staunend blickte sie in den endlosen Himmel, welcher von strahlenden kleinen Lichtpünktchen übersät war.
„Sind das Sterne?“ fragte sie sich leise und ließ den Blick über die Landschaft gleiten. Rundherum türmten sich mächtige Felsen, und riesige Berge ragten in den Himmel. Ari stand auf einem kleinen Felsplateau, welches durch Stein und Abgrund begrenzt wurde und einen weiten Blick in die Umgebung erlaubte.
Die junge Ardruan setzte sich zu Boden und wartete. Sie hatte keine Ahnung, wie lange eine Nacht dauerte, aber sie würde warten. Warten, bis sie die Sonne gesehen hatte.
Die Stunden strichen dahin, doch Ari war geduldig. Zudem konnte sie sich an den abertausenden von Lichtpunkten am Sternenhimmel kaum satt sehen.
Als der Morgenschimmer kam und die Sterne verblassten, wunderte sie sich erst, aber dann begriff sie was sich abspielte und sprang auf. Mit freudig emporgereckten Armen begrüßte sie als die Letzte der Ardruan die Sonne. Immer heller wurde der Himmel, immer weiter und strahlender das Blau. Das Licht erreichte ihre Hände, Arme, ihr Gesicht und ihren Körper und mit dem Licht kam auch die Wärme. Erst kaum merklich, doch dann immer intensiver umschmeichelte sie die blassgraue Haut und brachte sie zum Glänzen und Kribbeln wie nie zuvor. Obwohl Aris Augen durch die ungewohnte Helligkeit bald anfingen zu schmerzen, weigerte sie sich, diese zu schließen. Sie wollte jeden geschenkten Augenblick auskosten. Irgendwann fing sie an zu jauchzen und tanzte auf dem Plateau herum, bis sie schließlich völlig außer Atem zu Boden sank.
Ari verbrachte den ganzen Tag unter dem strahlendblauen Himmel. Ungezählte Bilder und Eindrücke überfluteten ihre Sinne und machten sie sprachlos und staunend.
Ab und zu konnte sie in der Ferne eine Bewegung in der Luft erkennen. Das müssen Vögel sein , dachte sie dann und wünschte sich, dass sie näher kämen. Dieser Wunsch blieb unerfüllt, doch Ari war so beglückt von allem anderen, dass sie darüber wahrhaftig nicht traurig sein konnte.
Als die Nacht wieder hereinbrach, kehrte Ari zu ihrem Volk zurück und berichtete mit singender Stimme von der Sonne.
Viele glaubten ihr jedoch nicht, oder taten es mit einem Schulterzucken ab. Was hatten sie schon davon, dass Ari die Sonne gesehen hatte? Davon wurde das Volk der Ardruan nicht satt.
Nur der Weise weinte und freute sich zugleich für die kleine Ari. Er begriff das Wunder und die Güte ihrer Mutter. Sie verzieh und schenkte ihnen ein Kind, das eine Zukunft hatte.
Ari verbrachte viele glückliche Tage an der Erdoberfläche, aber bald sehnte sie sich danach, größere Erkundungen zu unternehmen. So sehr sie den Anblick der Felsen und Berge auch liebte, so hatte sie doch noch niemanden gefunden, dem sie ihre Geschichten erzählen konnte. Und sie hatte so vieles noch nicht gesehen. Doch einfach fort zugehen kam ihr nicht in den Sinn. Sie war eine Ardruan und eine Sucherin, und sie gehörte zu ihrem Volk. Niemals hätte sie ihre Pflichten abgeworfen und ihr Volk verlassen, ohne eine triftigen Grund zu haben.
Doch dieser Grund kam.
Als Ari eines Tages in den Felsen herumkletterte, auf der Suche nach lebendem Getier, hörte sie plötzlich einen stöhnenden Laut. Erschrocken blieb sie stehen und lauschte. Das Geräusch kam aus der Richtung, in der die Sonne stand. Zögernd kletterte sie vorwärts. Bald hatte sie die Quelle des stöhnenden Geräusches erreicht.
Vor ihr lag ein großer Mann in gekrümmter Haltung. Er trug ein langes zerfetztes Tuch um die Schultern und war überhaupt sehr seltsam und bunt gekleidet.
Ein Mensch , schoss es Ari durch den Kopf. Kein Ardruan, er hat Sonnenhaar und helle Haut.
Vorsichtig beugte sie sich zu ihm hinunter. Eines seiner Beine und ein Arm waren seltsam verrenkt, offensichtlich gebrochen. Als Ari ihn auf den Rücken drehte, stöhnte er wieder auf und öffnete die Augen. Verständnislos blickte er auf das Mädchen mit dem langen mausgrauen Haar, den ebenso grauen Augen und den seltsam starren, scharfkantigen Gesichtszügen.
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