Er erzählte lange Zeit - viele Jahre. Ari saß geduldig bei ihm und lauschte. Erst wunderten sich alle über die beiden, aber dann gewöhnten sie sich an das Auf und Ab der erzählenden Stimme und Aris Zwischenfragen. Ihre Altersgenossen gaben die anfänglichen Hänseleien bald auf und schenkten ihr kaum mehr Beachtung. Sie verbrachten ihre Zeit lieber mit unzähligen Varianten von Spielen: Bewegungsspiele, Stein- und Wortspiele. Je nach Neigung erlernten sie ein Handwerk oder erhielten verschiedene Pflichten, wie das Beseitigen von Abfall und Notdurft, Botengänge und weniger wichtige Aufgaben.
Eines der älteren Kinder wurde Lehrling des Feuerhüters und stieg damit steil in der Beachtung und Rangordnung innerhalb des klein gewordenen Volkes. Feuer musste brennen und wurde mit heiligem Eifer vom Feuerhüter bewahrt. Gespeist wurde es vom schwarzen Weichstein. Nur wenige Ardruan wussten, dass die Menschen dieses Material Kohle nannten. Das war nicht wichtig. Wichtig war nur, dass die Sucher auch ab und zu Holz fanden, welches ebenfalls unter der Obhut des Feuerhüters stand. Selten war Brennmaterial so knapp, dass die Feuer erloschen. Doch dann bedurfte es der Kunst des Feuerhüters und vor allem des Holzes, um die Flammen neu zu entfachen. Jeder Ardruan beherrschte die Kunst des Feuermachens, aber nur einem war die Aufgabe zuteil, das Volk mit Licht und Wärme zu versorgen. Er teilte jedem Heimfeuer das Brennmaterial zu und achtete auf genügend Nachschub. So war gewährt, dass nichts verschwendet wurde.
Zwanzig Feuer gab es und alle wurden von einer kleinen Gruppe Ardruan genutzt. Die Zusammensetzung der Gruppe wechselte, je nach Familienstand und Neigungen. Selten kam es zu Streitereien. Die Kinder wanderten von jeher nach Belieben von Feuer zu Feuer, und so störte sich auch niemand daran, dass Ari sich dauerhaft am Feuer des Weisen niederließ. Die Erwachsenen waren sich bald einig geworden, was das Mädchen betraf. Die Geschichten mussten erhalten bleiben, das war schon immer so gewesen. Der Weise war alt und bisher ohne Nachkommen geblieben. Warum sollte also nicht die kleine Ari seine Stelle einnehmen? Und so lebte das jüngste und letzte Kind der Ardruan am Feuer des Ältesten und wurde zur letzten Geschichtenbewahrerin ihres Volkes.
Als Ari vierzehn Jahre alt wurde, war die Zeit der Sucherprüfung gekommen. Die Felsen sollten entscheiden, ob Ari Sucherin werden sollte oder nicht. Selten wurde eines der Kinder für diese Rolle erwählt. Meistens war es ein besonders starkes oder intelligentes Kind. Beides traf auf Ari augenscheinlich nicht zu. Sie war sehr klein und zierlich, und was ihre Intelligenz betraf, - nun Geschichten konnte sie zweifellos behalten, aber mehr hatte sie bisher nicht bewiesen. Niemand rechnete damit, dass Ari wirklich erwählt wurde.
Am Tag der Prüfung versammelte sich das Volk der Ardruan am Sucherfelsen. Es waren nunmehr sechzig Personen, doch bis auf Ari selbst keine Kinder mehr. Die armseligen Überreste eines einst mächtigen Volkes.
Der Ältestenrat, bestehend aus 11 Männern und Frauen bildete einen Halbkreis um den Sucherfelsen. Dieser war ein riesiger silbergrauer Fels mit blank geschliffener Vorderseite, eingelassen in der Höhlenwand. Sein Durchmesser betrug etwa drei Meter in der Breite und fünf Meter in der Höhe; die obere Kante lag kaum sichtbar im flackernden Dämmerlicht.
Dieser Felsen war die Ein- und Austrittspforte für die Sucher. Von hier brachen sie zur Jagd auf und kehrten auch immer hierher zurück.
An ihm entschied sich auch, wer zum Sucher bestimmt war.
Rechts und links des Steines hatten sich die vier derzeitigen Sucher postiert: Zwei Männer und zwei Frauen. Hoch gewachsen waren sie und ihre langen, sehnigen Gliedmaßen zeugten von viel Bewegung und Kraft. Zwei von ihnen waren schon alt, wirkten aber noch rüstig und behänder als andere ihres Alters. Die jüngeren Sucher waren noch im besten Lebensalter, doch man sah ihnen bereits an, dass die Hauptlast der Verantwortung auf ihren Schultern lag. Kantig und dünn waren ihre Gesichtszüge und ihre Augen blickten ernst, aber auch ein bisschen hoffnungslos.
Die letzte Erwählung lag schon sehr lange zurück und dieses zarte Kind entsprach so gar nicht den bisherigen Suchern, dass auch sie sich nicht vorstellen konnten, eine neue Sucherin in ihre Reihen aufnehmen zu dürfen.
Ari trat nervös von einem Bein aufs andere, während sie vor dem Sucherstein stand. Diese Prüfung war seit Jahrhunderten eine der wichtigsten im Leben eines Ardruans. Sucher waren überlebenswichtig für das Volk. Nur sie vermochten durch das Gestein zu gehen, um außerhalb der Höhle nach Nahrung, Wasser und Holz zu suchen. Jeder Sucher war daher hoch geachtet und sich seiner Bedeutung mehr als bewusst.
Im Gegensatz zu allen anderen ihres Volkes war Ari insgeheim fest davon überzeugt, dass sie Sucherin werden durfte. Sie musste einfach! Was sollte sie sonst mit ihren Geschichten anfangen? Von ihrem Volk wollte kaum einer zuhören. Aber was tun, wenn sie sich täuschte und abgelehnt würde? Oh, dann wollte sie sterben, ganz bestimmt!
Der Erste des Ältestenrates trat hinter sie. Er war nicht nur Wortführer der Ältesten sondern auch Vermittler zwischen Mutter Gestein und dem Volk der Ardruan. Er und Ari richteten ihre Augen auf den Sucherstein. Der Erste hob die Hände und alle wurden schlagartig still.
„Mutter Gestein, höre mich an. Wir sind dein Volk und deiner Gnade beugen wir uns demütig. Hier steht eines unserer Kinder, welches das Alter erreicht hat, um Sucherin zu werden. Sie möchte dir helfen unser Volk zu ernähren und zu beschützen. Wir bitten dich ihr nun zu zeigen, ob sie deiner Gnade würdig ist.“
Er stieß Ari ungeduldig in den Rücken.
Ari zögerte erst. Doch dann holte sie tief Luft und schloss die Augen. Sie legte die Hände auf die Felsen und fühlte das glatte Gestein an den Handflächen.
Die Zuschauer zuckten die Schultern, als nichts geschah. Sie hatten nichts anderes erwartet.
Ari stand atemlos vor dem Felsen und spürte, wie eine Kraft in sie floss, die sie nie zuvor gespürt hatte. Der Erste stieß sie wieder an.
„Nun komm schon. Was du machst ist ungehörig.“
Aber Ari reagierte nicht. Sie fühlte, wie der Fels unter ihrer Hand kribbelte und sie sanft liebkoste. Ari stieß einen tiefen Seufzer aus und trat einen Schritt vorwärts. Ihre Hände glitten ins Gestein und streichelten es.
Der Erste schrie überrascht auf, worauf sich die Leute ihnen wieder zuwendeten. Ari hatte ihre Arme tief ins Gestein getaucht und schwelgte in ihrem neuen Gefühl.
„Eine Sucherin - sie ist eine Sucherin“, pflanzte sich der Ruf ungläubig fort. „Aber warum gerade sie?“
Ari hörte nichts von der Aufregung. Mit ihren Gefühlen streichelte sie den Felsen und fragte um Erlaubnis weiterzugehen. Sie wurde nahezu vom Felsen aufgesogen, als sie vollständig eintrat und durch die felsige Atmosphäre glitt. Sie brauchte keinen Atem, keine Kraft, da sie eins mit den Felsen war. Wie in einem Traum floss sie vorwärts und erschrak fast, als sie in einem dunklen Tunnel landete. Durch den plötzlichen Atmosphärenwechsel sackte sie unvorbereitet zu Boden. Erschrocken blieb sie sitzen. Es herrschte stockdüstere Finsternis und die Luft war stickig. Aufmerksam lauschte sie. Plötzlich hörte sie ein tappendes Geräusch auf sich zukommen. Ängstlich presste sie sich an die Wand. Als etwas Pelziges an ihren Beinen vorbeistreifte, hätte sie beinahe aufgeschrieen, doch fast sofort wusste sie, was es war. Ein Löffler! Ihr erster Fund als Sucherin! Zögernd streckte sie die Hand aus und zog das völlig erschöpfte und zitternde Tier heran. Glücklich presste sie es an sich. Doch ihr Glücksgefühl verschwand schon bald. Was sollte sie nur tun? Einerseits war ihr Traum in Erfüllung gegangen und sie hatte endlich ein Tier, welchem sie Geschichten erzählen konnte. Aber andererseits sollte sie es töten und ihrem Volk als Nahrung bringen.
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