„Trotzdem glaube ich fest daran, dass er lebt. Ich kann die Hoffnung nicht aufgeben." Sekundenlang schloss sie die Augen. „Ich kann es einfach nicht! Tobias ist doch alles, was mir geblieben ist."
„Ich bin doch auch noch da", sagte er sanft und legte den Arm um ihre Schultern. „Für mich ist das alles genauso schwer. Tobias war wie ein kleiner Bruder für mich. Aber ich bin realistisch genug, die Tatsache zu akzeptieren, dass wir ihn verloren haben. Wir müssen nun zusammenhalten und das Beste daraus machen. Dazu gehört auch, dass ich dich so gut wie möglich entlaste."
„Das weiß ich zu schätzen", erwiderte sie nun wieder ruhiger. „Noch ist das aber nicht nötig. Seit ich dir vor zwei Jahren die Geschäftsleitung übertragen habe, gibt es für mich in der Firma sowieso nicht mehr viel zu tun."
„Denk bitte trotzdem über meinen Vorschlag nach", bat er und erhob sich. „Ich muss jetzt zurück ins Werk." Liebevoll küsste er sie auf die Stirn. „Ruf an, wenn du mich brauchst. – Ciao, Tante Biggi."
„Bis bald, Udo."
Kaum hatte er die Villa verlassen, betrat Helga den Salon.
„Alles in Ordnung, Brigitte?"
„Ja, ja ...", nickte sie abwesend. „Sei so lieb und stell die Blumen ins Wasser."
„Udo entpuppt sich wohl allmählich als Rosenkavalier", bemerkte die Freundin, aber Brigitte reagierte nicht. Gedankenverloren zündete sie sich eine Zigarette an. „Frau Dr. Hellberg hat eben angerufen."
„Ach, tatsächlich!?" Überrascht erwiderte sie Helgas Blick. „Was wollte sie denn?"
„Sich nach deinem Befinden erkundigen. – Allerdings sollte ich dir das verschweigen." Achselzuckend nahm sie die Blumen vom Tisch. „Ich habe ihr zwar gesagt, dass du dein Verhalten von gestern bedauerst, aber ich fürchte, nach ihren bisherigen Erfahrungen in Petersfelden ist es ihr schwergefallen, das zu glauben. Aber sie hat ja sowieso vor, das Handtuch zu werfen."
„Sie will die Stadt wirklich wieder verlassen?"
„Wahrscheinlich wird sie die Praxis Ende des Monats schließen und hofft, bald einen Nachfolger zu finden, der das Haus und die Praxis mit allem Inventar übernimmt."
„Dann muss ich schnell handeln.“ Nach kurzem Nachdenken fuhr sie sich mit der Hand durch die Fülle ihrer braunen Locken. „Müsste ich nicht dringend zum Frisör?"
„Wie kommst du jetzt darauf? Dein Haar sitzt wie immer perfekt."
„Es sieht schrecklich aus", widersprach Brigitte. „So kann ich doch nicht rumlaufen. Sei so gut und vereinbare gleich für morgen Vormittag einen Termin für mich."
„Was hast du vor?" Prüfend musterte Helga die Freundin. „Immer, wenn du dieses merkwürdige Glitzern in den Augen hast, führst du irgendwas im Schilde.“
„Eigentlich möchte ich nur ein paar Neuigkeiten in Umlauf bringen", entgegnete Brigitte mit Unschuldsmiene. „Welcher Ort wäre dafür besser geeignet, als ein Frisiersalon?"
Am darauffolgenden Morgen parkte Brigitte Gundlach ihren Sportwagen vor dem Salon Bertram. Schon an der Tür wurde sie vom Meister persönlich erwartet. Nach der Begrüßung führte er sie zu einem freien Platz. Als sie sich setzte, bemerkte Brigitte durch den großen Spiegel vor sich die neugierigen Blicke, die sie sowohl von den anwesenden Kundinnen als auch vom Personal trafen. Zufrieden darüber, dass der Salon an diesem Morgen so gut besucht war, lehnte sich Brigitte zurück.
„Was kann ich für Sie tun, Frau Gundlach?"
„Wie immer", entgegnete sie und setzte eine bekümmerte Miene auf. Mit der Rechten fuhr sie sich durch die Frisur. „Ihre Kollegen in Südamerika waren einfach unfähig, mich ordentlich zu frisieren. Schauen Sie nur, wie stumpf und angegriffen mein Haar aussieht."
„Das kriegen wir mit unserer neuen Pflegeserie schon wieder hin."
Nachdem er ihr das Haar gewaschen hatte, nahm er einen Kamm zur Hand.
„Wie ich gehört habe, wurde Ihr Hund vergiftet, Frau Gundlach. Weiß man schon Näheres?"
„Leider nicht. Mir ist unbegreiflich, wie jemand so grausam sein kann. Apollo war ein so lieber Kerl. Bei meiner Rückkehr war er noch ganz munter. – Ein paar Stunden später war er plötzlich tot. Ich vermisse ihn schrecklich.“
„Das ist ja furchtbar", sagte er mitfühlend. „Hatten Sie wenigstens eine angenehme Reise?"
„Ich will mich nicht beklagen, aber das feuchtwarme Klima hat mir doch arg zu schaffen gemacht. Ich bin eben nicht mehr die Jüngste."
„Ich bitte Sie, Frau Gundlach", widersprach er sofort. „Sie haben sich in den letzten Jahren doch kaum verändert, wenn ich das so sagen darf."
„Sie sind ein Charmeur, Herr Bertram", sagte sie lächelnd, da er ihren Plan unwissentlich unterstützte. „Dass ich keine zwanzig mehr bin, habe ich bei meiner Rückkehr deutlich gespürt. Die anstrengende Reise, der Zeitunterschied und der plötzliche Klimawechsel haben mir so zugesetzt, dass ich nach der Landung in Hannover richtig krank wurde."
„Dann haben Sie gleich in Hannover einen Arzt aufgesucht!?"
„Wo denken Sie hin?" Scheinbar vorwurfsvoll schaute sie ihn durch den Spiegel an. „Glauben Sie, ich würde einen mir gänzlich unbekannten Arzt konsultieren? - Nein, ich habe mich sofort nach Hause fahren lassen. Immerhin haben wir in Petersfelden einen guten Arzt."
„Hatten", erinnerte er die Kundin mit Bedauern. „Unser alter Doktor ist ja leider seit fast drei Monaten tot."
„Die Praxis ist doch längst wiedereröffnet", entgegnete Brigitte gerade so laut, dass auch die anderen Anwesenden mithören konnten. „Ganz im Vertrauen: Frau Dr. Hellberg ist viel kompetenter, als ich dachte. Sie müssen wissen, ich habe enge Freunde in Hannover, die mir berichtet haben, dass man Frau Dr. Hellberg in der dortigen Klinik gar nicht gehen lassen wollte. Trotzdem ist sie nach Petersfelden gekommen, um die Arbeit ihres Onkels fortführen."
„Sie haben sich von einer so jungen Ärztin behandeln lassen?", fragte der Frisör mit einer Mischung aus Erstaunen und Skepsis. „Konnten Sie ihr einfach so vertrauen?"
„Wenn jemand auf Anhieb so sympathisch wirkt, fällt einem das nicht schwer. Ich bin mehr als zufrieden mit meiner neuen Ärztin. Innerhalb von 24 Stunden hat sie mich wieder auf die Beine gebracht. Seitdem fühle ich mich großartig." Vernehmlich seufzte sie auf. „Leider werde ich wohl künftig immer nach Hannover fahren müssen, wenn ich Beschwerden habe. Die weite Anfahrt nehme ich aber gern in Kauf, seit ich weiß, dass ich bei Frau Dr. Hellberg in den besten Händen bin."
„Sie will nach Hannover zurück?"
„Es wäre wohl zu viel Aufwand, die Praxis nur wegen Frau Busse und mir weiterzuführen. Sie kennen doch die Pertersfeldener, Herr Bertram: Allem Neuen gegenüber verhalten sie sich misstrauisch. Sie und ich, wir beide wissen natürlich, dass unserem Städtchen nichts Besseres als eine so fähige Ärztin passieren konnte. Aber die anderen ..." Kopfschüttelnd winkte sie ab. „Mir persönlich macht es nichts aus, wenn wir hier vielleicht bald einen verknöcherten Medizinmann haben, der mit den neuesten Behandlungsmethoden nicht vertraut ist. Dann verbinde ich künftig eben Treffen mit meinen Freunden in Hannover mit einem Arztbesuch."
„Steht Frau Dr. Hellbergs Entschluss, die Praxis zu schließen, denn schon fest?", fragte er, während er ihr Haar auf Wickler rollte.
„Was täten Sie an ihrer Stelle? Wenn Sie mit den besten Absichten einen Salon eröffneten, aber keine Kunden kämen? Wenn man Sie spüren ließe, nicht willkommen zu sein? Da Sie irgendwie Ihren Lebensunterhalt bestreiten müssten, bliebe Ihnen keine andere Wahl, als das Geschäft zu schließen. Sie würden dorthin zurückgehen, wo man Sie und Ihre Arbeit zu schätzen weiß."
„Vielleicht könnte man sie aber überreden, zu bleiben", meinte der Mann. „Sie wird die Praxis ihres Onkels doch nicht leichten Herzens an einen fremden Arzt übergeben."
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