„Mein Sohn ist nicht tot!", beharrte Brigitte und sprang auf. „Auch wenn ihr alle das behauptet! Tobias lebt! Eines Tages kommt er zurück!" Haltsuchend stützte sie sich an einer Kommode ab, als der Boden unter ihren Füßen plötzlich zu schwanken schien. „Tobi muss ... noch am ...Leben sein ..."
„Brigitte!" Schon war die Freundin neben ihr und führte sie zum Bett. „Leg dich hin. Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten."
Als Brigitte leise stöhnend in die Kissen sank, deckte Helga sie zu.
„Gib mir bitte eine von den Tabletten", bat Brigitte mit schwacher Stimme, worauf Helga sie verwundert anschaute.
„Woher weißt du ...?"
„Ich habe fast alles gehört, was unten gesprochen wurde", erwiderte sie, während die Freundin die Tabletten aus der Jackentasche zog. „Warum war Udo eigentlich so spät noch mal hier?"
„Er hat in der Krone von der Sache mit Apollo erfahren und war deshalb besorgt um dich." Mit geschickten Fingern löste sie eine Tablette aus der Packung und gab sie der Freundin. Dann reichte sie ihr das gefüllte Wasserglas vom Nachtschränkchen. „Udo kommt morgen wieder, weil Frau Dr. Hellberg ihm für heute einen Besuch bei dir verboten hat."
„Es hat mich beeindruckt, wie energisch sie ihn fortgeschickt hat", sagte Brigitte und schluckte die Tablette. „Warum hast du ausgerechnet sie gerufen? Kennst du sie schon länger?"
„Nein, aber ich habe gehört, dass die Petersfeldener die neue Ärztin boykottieren, weil sie lieber wieder einen erfahrenen Mann in der Praxis hätten. Eine junge, attraktive Frau erregt ihr Misstrauen. Ich habe aber keine Vorurteile. Schließlich leben wir nicht mehr im Mittelalter."
„Von der Existenz einer Nichte unseres alten Dr. Seifert wusste ich gar nichts. Hatte er sich nicht mit seiner Familie überworfen?"
„Vor vielen Jahren schon", bestätigte Helga. „Trotzdem hat seine Nichte ihn hin und wieder besucht. Sie war wohl die einzige aus der Familie, mit der er Kontakt hatte. Einmal hat er erwähnt, wie stolz er auf sie war, weil sie es in ihrem Alter schon zur Oberärztin gebracht hatte. Frau Dr. Hellberg war es auch, die ihren Onkel nach Hannover in die Klinik geholt hat, als er so schwer krank wurde."
„Dann hat er ihr wohl das Haus vererbt", überlegte Brigitte. „Da die Praxis recht altmodisch war, hat sie vermutlich viel Geld investiert. - Nun bleiben die Patienten aus und sie kann ihren Zahlungsverpflichtungen nicht nachkommen.“ Fragend hob sie die Brauen. „Beurteile ich das richtig?"
„Leider ist das so. Mir täte es jedenfalls sehr leid, wenn diese nette junge Frau vor der Sturheit der Leute kapitulieren müsste."
„Das wird nicht passieren", sagte Brigitte entschlossen, weil sie glaubte, etwas gutmachen zu müssen. „Sowie es mir wieder besser geht, kümmere ich mich darum."
„Was hast du denn vor? Als Frau Dr. Hellberg nach dem Besuch bei dir so bedrückt wirkte, dachte ich, dass du sie nicht leiden kannst."
„Wegen Apollo war ich noch so durcheinander", gestand Brigitte. „Deshalb war ich wohl ziemlich unwirsch. Ich werde mich bei Frau Dr. Hellberg entschuldigen. Außerdem bringe ich die Petersfeldener irgendwie zur Vernunft. Es wäre doch gelacht, wenn ich sie nicht beeinflussen könnte. Immerhin verdienen viele von ihnen ihr Brot in meiner Firma." Erschöpft strich sie sich über die Stirn. „Allmählich werde ich müde. Die Tablette scheint zu wirken."
„Es handelt sich ja auch um ein Präparat von Edugu-Pharma", erklärte Helga. „Schlaf dich mal richtig aus, Brigitte. Und ruf mich, wenn du was brauchst. - Gute Nacht."
„Danke, Helga. - Gute Nacht."
Edugu-Pharma, wiederholte Brigitte im Stillen, als Helga die Tür von außen geschlossen hatte. - Manchmal wünschte sie, Eduard sei nur ein kleiner Beamter gewesen. Was nützte ihr all das viele Geld? Es konnte ihr auch nicht ersetzen, was sie verloren hatte.
1973
Konzentriert saß die 18jährige Brigitte Leonhardt in der Lobby des Hotels am Stadtpark in Hannover bei einer Tasse Kaffee über Vertragsunterlagen, als ein junger Mann vor ihr stehenblieb.
„Darf ich mich zu Ihnen setzen?"
Mit ernster Miene hob sie den Blick und musterte ihn kühl.
„Wenn Sie keine Gesellschaft suchen - ja."
„Sind Sie so beschäftigt?", fragte er und nahm im Sessel neben ihr Platz. „Oder haben Sie generell was gegen Männer?"
„Nur gegen solche, die neugierige Fragen stellen."
Sein herzhaftes Lachen wirkte jungenhaft. Er war schätzungsweise Mitte zwanzig und zwinkerte ihr vergnügt zu.
„Glauben Sie, ich bin einer von dieser Sorte?"
„Da das schon Ihre vierte Frage war ...", gab sie mit leisem Spott zurück. „Um die Sache abzukürzen: Danke, ich bin nicht interessiert."
Trotz dieser Abfuhr beugte er sich etwas zu ihr hinüber. Anscheinend würde er sich nicht so leicht entmutigen lassen. Nun blickte er nachdenklich vor sich hin. Brigitte gestand sich ein, dass er auf Anhieb sympathisch wirkte. Warum hatte sie plötzlich das Gefühl, ihn schon lange zu kennen? So etwas war ihr noch nie passiert, und es verunsicherte sie. Ihre Erfahrungen mit Männern beruhten bislang nur auf freundschaftlichen Beziehungen. Obwohl sie einige Verehrer hatte, die hartnäckig waren, wollte sie so schnell wie möglich ihr Studium durchziehen, um auf eigenen Füßen zu stehen. Für die Liebe war später noch Zeit. Oder nicht? Verwirrt darüber, überhaupt solche Gedanken zuzulassen, rief sie sich insgeheim zur Ordnung: Sie war nicht zu ihrem Vergnügen hier!
„Woran sind Sie denn interessiert?", hörte sie ihn fragen.
„Derzeit an Edugu-Pharma", entgegnete sie so sachlich wie möglich. „Ich bin hier mit Herrn Gundlach verabredet."
„Ach ...“, sagte er gedehnt. „Was wollen Sie denn von ihm?"
„Entscheidend ist, was er von mir möchte", antwortete sie und schlug die Beine übereinander. „Da er mich bezahlt, wird er sich kaum nach meinen Wünschen richten."
„Mögen Sie den alten Knaben?“, fragte er in missbilligendem Ton. Ihm schien nicht zu gefallen, was er soeben gehört hatte. „Er könnte glatt Ihr Vater sein."
„In meiner Situation kann man sich die Leute nicht aussuchen. Ich muss das Geld für mein Studium verdienen." Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Allerdings gebe ich zu, dass es mir auch Spaß macht – jetzt besonders. Herr Gundlach ist wirklich sehr nett. Gestern haben wir schon viel Zeit zusammen verbracht. Wenn er zufrieden mit mir ist, bucht er mich hoffentlich öfter."
Verblüfft schüttelte der junge Mann den Kopf.
„Das klingt, als würden Sie diese ... Tätigkeit gern ausüben!?"
„Es ist das, was ich am besten kann." Rasch setzte sie die Kaffeetasse an die Lippen, als sie Eduard Gundlach aus dem Fahrstuhl kommen sah.
Da trat der Konzernchef zu den jungen Leuten.
„Wie ich sehe, habt ihr euch schon miteinander bekannt gemacht", sagte er, bevor er den Mann neben ihr anschaute. „Von dieser jungen Dame kannst du noch viel lernen. Brigitte ist nicht nur perfekt in ihrem Job, sondern auch sehr einfühlsam, was die Wünsche ihres Gegenübers betrifft. Auch meine Verhandlungspartner sind ganz begeistert von ihr."
„Entschuldigen Sie uns bitte einen Moment", wandte sich der Jüngere an Brigitte, erhob sich und führte Eduard Gundlach außer Hörweite. „Hast du dieses Mädchen wirklich mit den Spaniern zusammengebracht, Vater?"
„Deshalb habe ich Brigitte doch engagiert", bestätigte er. „Sie erfüllt ihre Aufgabe so gut, dass ich ihr einen Bonus zukommen lassen werde, wenn das Geschäft unter Dach und Fach ist."
„Findest du das nicht geschmacklos?" Vorwurfsvoll blickte er ihn an. „Du hast mich herbeordert, damit ich was lerne. Was du damit gemeint hast, wird mir erst jetzt klar. Ich hätte nie gedacht, dass du es nötig hast, auf diese Weise Geschäfte zu machen. In meinen Augen ist das mehr als unseriös."
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