Claudia Rimkus - Die weiße Villa

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Seit acht Jahren sucht Brigitte vergeblich nach ihrem in Brasilien verschollenen Sohn Tobias. Nach ihrer Rückkehr von einer solchen Reise findet sie ihren Hund vergiftet im Garten. Einige Tage später gibt Brigitte eine Party, auf der sie sich im Laufe des Abends skandalös verhält. Am nächsten Morgen kann sie sich an nichts erinnern. In den folgenden Tagen und Wochen häufen sich die unerklärlichen Ereignisse, so dass Brigitte an sich selbst zu zweifeln beginnt. Ist sie psychisch krank? Wird sie wirklich bedroht, oder leidet sie unter Verfolgungswahn? Passieren diese schrecklichen Dinge tatsächlich oder entspringen sie nur ihrem zeitweise verwirrten Geist? Steckt vielleicht doch mehr dahinter? –
Dieser Roman erzählt hauptsächlich von Brigittes Leben in der Gegenwart. In Rückblicken erfährt der Leser, was sich in der Vergangenheit ereignet hat. Dadurch entsteht für ihn ein Gesamtbild, das ihn vielleicht ahnen lässt, wer oder was hinter den merkwürdigen Ereignissen stecken könnte.

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Sofort eilte Udo Gundlach auf sie zu.

„Herzlich willkommen, Tante Biggi", begrüßte er sie und schloss sie in die Arme. „Wie war dein Flug?"

„Lang und anstrengend." Dankbar nahm sie die Blumen entgegen. „Das ist lieb von dir. Ich kann eine Aufmunterung gebrauchen."

„Es tut mir leid, dass du wieder nichts erreicht hast“, sagte er, wobei er den Gepäckwagen übernahm. Durch einige Telefongespräche, die er mit seiner Tante während ihrer Reise geführt hatte, wusste er, dass es keine neuen Erkenntnisse gab.

„Lass uns später darüber sprechen“, bat Brigitte. Trotz der milden Frühlingstemperatur fröstelte sie, als sie den Terminal durch die automatische Tür verließen. Der Wagen war in der Kurzparkzone in der Nähe des Ausgangs geparkt. Dennoch empfand sie die wenigen Schritte als unangenehm, da ihr Körper noch an den brasilianischen Sommer gewöhnt war .„Ich möchte nur nach Hause.“ Mit einem verwunderten Blick kommentierte sie, dass er sie mit der Firmenlimousine abholte. „Hast du deinen Porsche zu Schrott gefahren?"

„Natürlich nicht", verneinte er und öffnete die Beifahrertür. „Nach dem langen Flug sollst du es so bequem wie möglich haben."

„Wie fürsorglich. Fast könnte ich glauben, dass du deine alte Tante vermisst hast."

„Alte Tante ...", wiederholte er vorwurfsvoll. „Du bist eine Frau in den besten Jahren."

„Die liegen hinter mir", widersprach sie und hüllte sie sich in nachdenkliches Schweigen, bis sie das abendliche Petersfelden und das Anwesen der Fabrikantenwitwe erreichten.

Durch den gepflegten Park rollte die Limousine auf die weiße Villa zu. Kaum hatte Udo den Wagen gestoppt, wurde die schwere Haustür geöffnet, und Helga Busse trat lächelnd ins Freie. Ein sandfarbener Labrador-Mischling folgte ihr auf dem Fuß.

Augenblicke später lagen sich die Freundinnen, die dieses Haus gemein­sam bewohnten, in den Armen, während der Hund vor Freude schwanzwedelnd um sie herumsprang.

„Willkommen zu Hause", sagte Helga herzlich. „Schön, dass du wieder da bist."

„Danke, Helga." Sie übergab ihr die Blumen und strich dem aufgeregt fiependen Hund über den Kopf, ehe sie in die Hocke ging und das Tier an sich drückte. „Ach, Apollo, du hast mir gefehlt. Wahrscheinlich bist du der Einzige, der mir geblieben ist.“

„Er hat dich auch vermisst", sagte Helga. „So, wie wir alle."

Während sie vorausgingen, trug Udo das Gepäck seiner Tante ins Haus.

Wenig später saßen sie im kleinen Salon bei einem Glas Wein und einem Imbiss, den Helga vorbereitet hatte. Deprimiert berichtete Brigitte von ihrer erfolglosen Suche in Brasilien. Dabei kraulte sie den Hund, der neben ihrem Sessel saß.

„Der einzige Lichtblick dieser Reise war José Vargas", schloss sie, worauf ihr Neffe missbilligend die Brauen hob.

„Ist der alte Knabe etwa immer noch hinter dir her?"

„Erstaunlich, nicht!? Stell dir vor, er hat mir sogar einen Heiratsantrag gemacht."

„Das ist doch absurd!", entfuhr es Udo. „Was hat dir dieser alte Regenwäldler denn noch zu bieten?"

„José ist nur knapp zwei Jahre älter als ich."

„Du wirkst aber viel jünger. Du brauchst einen Partner, der dazu passt.“

„Mit dem ich mich dann in der ganzen Stadt lächerlich mache", fügte sie ironisch hinzu. „Man würde behaupten, die alte Gundlach erlebt ihren ... wer weiß, wievielten Frühling."

„Das würde der alten Gundlach aber ganz gut tun", meinte Helga. „Allerdings ist Petersfelden nicht der richtige Ort, nach einem Geliebten Ausschau zu halten. Die in Frage kommenden Männer hier kann man doch allesamt vergessen."

„Recht herzlichen Dank", kommentierte Udo. „Sie sind heute wieder umwerfend charmant."

„Jeder wie er kann", erwiderte sie, ohne eine Miene zu verziehen. „Außerdem lebe ich schon lange genug hier, um das beurteilen zu können.“

„Wie dem auch sei“, sagte Udo, „ich glaube jedenfalls, dass Vargas nicht der richtige Partner für dich ist, Tante Biggi. Oder willst du etwa in Brasilien leben? Du würdest dort bis ans Ende deiner Tage vergeblich nach Tobias suchen."

„Ob ich José heirate oder nicht, ändert überhaupt nichts daran, dass ich meinen Sohn nicht aufgebe! Ich weiß, dass Tobias noch lebt! Irgendwann werde ich ihn finden!"

„Du machst dir selbst was vor", behauptete ihr Neffe. „Seit beinah acht Jahren suchst du ihn jetzt schon. Würde er noch leben, hätte er sich längst bei uns gemeldet."

„Tobias ist nicht tot! Das spüre ich ganz deutlich!"

„Warum hörst du nicht auf, dich zu quälen? Sicher ist es für eine Mutter nicht leicht, ihr einziges Kind zu verlieren, aber du lebst doch an der Realität vorbei, wenn du dir einredest, dass Tobias bei dem Feuer nicht umgekommen ist. Wo sollte er denn sein? Es gibt überhaupt keinen Grund für ihn, sich irgend­wo zu verstecken. Das würde er dir außerdem niemals antun. Tobias ist tot!"

„Hör auf!" Erregt hielt Brigitte sich die Ohren zu. „Ich will das nicht mehr hören! Du solltest jetzt besser gehen!"

„Wie du meinst." Seufzend erhob sich ihr Neffe. „Eines Tages wirst du erkennen, dass ich Recht habe. Dann wirst du die Realität akzeptieren müssen."

Nachdem er sich verabschiedet hatte, verließ Udo den kleinen Salon. Er achtete nicht auf den Hund, der ihm hinausfolgte. Erst als er in sein Auto steigen wollte, bemerkte er das Tier, das erwartungsvoll bei ihm stehenblieb.

„Du kannst nicht mit“, sagte Udo und strich ihm über den Rücken. „Frauchen geht nachher bestimmt noch eine Runde mit dir.“

Sanft schob er Apollo beiseite und stieg in den Wagen. Auf der Fahrt über das Anwesen sah er im Rückspiegel den Hund, der ihm nachlief. Udo war sicher, dass Apollo am Tor umkehren würde. Das kluge Tier wusste, wie weit es sich vom Haus entfernen durfte. Tatsächlich blieb Apollo an der Grundstückseinfahrt stehen. Er schaute den Rücklichtern der Limousine noch einen Moment lang nach, bevor ein Rascheln seine Aufmerksamkeit erregte. Es kam aus der Nähe eines großen weißblühenden Rhododendrons. Sofort lief der Hund in diese Richtung. Dabei nahm er die Witterung eines Fremden auf und fing an zu bellen. Hinter dem Alpenrosenstrauch trat ein dunkel gekleideter Mann hervor. Seine Finger steckten in schwarzen Lederhandschuhen. Als der Hund ihn erreichte, sprach er leise auf ihn ein.

„Ganz ruhig, Apollo. Schau, was ich dir Leckeres mitgebracht habe.“ Er zog eine dicke Bockwurst aus der Jackentasche, die er dem Tier zeigte. Abrupt verstummte das Bellen. „Mach brav Sitz! Dann bekommst du sie.“ Zögernd kam der Hund der Aufforderung nach. Seine Augen waren auf die Wurst gerichtet. „So ist es fein“, lobte der Mann. „Bist ein guter Junge.“

Vorsichtig hielt er dem Tier den Leckerbissen hin. Wie erwartet, konnte Apollo nicht widerstehen und schnappte nach der Wurst. Während er sie verschlang, lief der Mann zum Tor und verschwand auf der Straße.

Unterdessen bemerkte Brigitte im kleinen Salon Helgas besorgten Blick, als sie sich eine Zigarette aus der hölzernen Dose nahm und nach ihrem vergoldeten Feuerzeug griff. Seit ihrer Rückkehr lagen schon einige ausgedrückte Zigarettenstummel im Aschenbecher.

„Du solltest nicht so viel rauchen, Brigitte."

„Willst du mir jetzt auch noch vorschreiben, was ich tun soll? Ich mache, was ich will!"

„Du solltest aber auch an deine Gesundheit denken."

„Wozu?" Entmutigt schüttelte sie den Kopf. „Was habe ich denn noch vom Leben zu erwarten? Seit Eduard und Tobias nicht mehr da sind, ist alles so sinnlos. Ich fühle mich schrecklich nutzlos."

„Ruh dich ein paar Tage aus. Das wird dir gut tun. Du kannst lange Spaziergänge mit Apollo unternehmen und ..."

„Wo steckt der Hund eigentlich?", fiel Brigitte ihr ins Wort und schaute sich um. „Vorhin hat er noch vor meinen Füßen gelegen."

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