„Helfen?", spottete Brigitte. „Ich habe Sie nicht darum gebeten. Wozu auch? Ich fühle mich ausgezeichnet."
„Das ist nicht wahr", behauptete die Ärztin äußerlich ruhig, obwohl das Misstrauen der Patientin sie verletzte. Mit unbewegter Miene legte sie das Spritzbesteck in die schwarze Tasche zurück. „Ich kann Sie nicht zwingen, sich von mir behandeln zu lassen, Frau Gundlach. Trotzdem rate ich Ihnen, bald einen Kollegen Ihres Vertrauens zu konsultieren, der Sie gründlich durchcheckt."
Ohne ein weiteres Wort griff sie nach ihrer Tasche und verließ mit einem gemurmelten Gruß den Raum. Niedergeschlagen wandte sie sich zur Treppe. Erst nach einigen Stufen bemerkte sie den Mann, der bei Frau Busse in der Halle stand. Er hob den Kopf und sah sie an. Er schien verwundert zu sein, fing sich aber rasch und ging ihr einige Stufen entgegen.
Unbemerkt von den anderen stand die Hausherrin, die es im Bett nicht mehr ausgehalten hatte, in der halb geöffneten Schlafzimmertür und beobachtete diese Szene.
„Ich bin Udo Gundlach", stellte er sich vor. „Wie geht es meiner Tante?"
„Nicht gut.“
„Dann werde ich gleich mal nach ihr sehen", sagte er, aber Mona Hellberg vertrat ihm spontan den Weg.
„Heute nicht mehr, Herr Gundlach", bestimmte sie. „Ihre Tante braucht jetzt absolute Ruhe."
„Ein kurzer Besuch wird ihr sicher nicht schaden", meinte er und wollte an ihr vorbei.
„Ich sagte: heute nicht mehr!", wiederholte sie energisch, worauf es in seinen Augen spöttisch aufblitzte.
„Wollen Sie mir vorschreiben, was ich zu tun oder zu lassen habe?"
„Wollen Sie die Verantwortung dafür übernehmen, wenn sich Frau Gundlachs Verfassung Ihretwegen verschlechtert?", versetzte sie, lächelte dann aber unverbindlich. „Da Ihnen das Wohl Ihrer Tante bestimmt am Herzen liegt, werden Sie Ihren Besuch sicher auf morgen verschieben können."
Sekundenlang lieferten sich ihre Augen ein stummes Duell. Schließlich gab Udo nach.
„Also gut.“ Mit einer übertriebenen Geste deutete er in die Halle. „Nach Ihnen, Frau Doktor." Seite an Seite gingen sie die Treppe hinunter. „Ich komme morgen wieder, Helga", sagte er im Vorbeigehen. „Gute Nacht, meine Damen."
Als Udo das Haus verlassen hatte, schaute Helga die Ärztin besorgt an.
„Schläft Brigitte jetzt?"
„Wohl kaum. Leider hat Frau Gundlach ein Beruhigungsmittel von mir abgelehnt."
„Warum? Sie wird die ganze Nacht nicht schlafen können."
„Aus welchem Grund lehnt jemand die Hilfe eines Arztes ab, obwohl sie ihm Linderung verschaffen würde? Weil das Vertrauen in den behandelnden Arzt fehlt. Anscheinend habe ich zu viel erwartet, als ich dachte, in einem so kultivierten Haus nicht auf Vorurteile zu stoßen."
„Man macht es Ihnen hier in Petersfelden sehr schwer, nicht?“
„Meine ehemaligen Kollegen hatten mich schon davor gewarnt, in einer Kleinstadt eine Praxis aufzumachen", bestätigte sie. „Trotzdem habe ich die Praxis meines verstorbenen Onkels übernommen. Ich hätte nicht gedacht, dass die Abneigung der Menschen gegenüber einem jungen, noch dazu weiblichen Arzt so groß sein würde. In den vier Wochen, die ich jetzt schon in Petersfelden praktiziere, haben nur wenige Patienten den Weg zu mir gefunden." Bedauernd hob sie die Schultern. „Wenn das so weitergeht ..."
„Was haben Sie dann vor?"
„Dann bin ich gezwungen, die Praxis zu schließen. Ich habe modernisiert und in teure Geräte investiert, die bezahlt werden müssen. Und schließlich muss ich ja auch von irgendwas leben." Ein kleines Lächeln huschte über ihr Gesicht. „Glücklicherweise hat mir mein Professor in Hannover zugesichert, dass ich jederzeit wieder in seiner Klinik anfangen kann. Mir bleibt wohl keine andere Wahl."
„Es tut mir leid, dass die Leute hier so verbohrt sind. Zu allem Überfluss habe ich Sie auch noch so spät gerufen."
„Machen Sie sich darüber keine Gedanken, Frau Busse. Zwar habe ich heute keinen Notdienst, aber wenn ich tagsüber nichts zu tun habe, kämpfe ich mit Einschlafschwierigkeiten.“
„Anscheinend habe ich Sie aus dem Bett geholt. Sie hätten mich an einen Notarzt verweisen sollen."
„Kein Problem; ich war erst mit einem Fuß unter der Bettdecke", winkte Mona ab. „Bevor ich dorthin zurückkehre, lasse ich Ihnen ein Rezept für Frau Gundlach hier. Obwohl ..." Nachdenklich schüttelte sie den Kopf. „Wahrscheinlich wird sie es nicht einlösen, nachdem sie mir praktisch unterstellt hat ..." Verzagt brach sie ab und notierte Namen und Telefonnummer eines Kollegen auf dem Rezeptblock. „Sollte Frau Gundlach heute Nacht noch ärztliche Hilfe benötigen, wenden Sie sich bitte an Dr. Dorn. Er ist Oberarzt des Kreiskrankenhauses." Kurz entschlossen nahm sie ein Päckchen Beruhigungstabletten aus ihrer Tasche. „Die lasse ich Ihnen für den Notfall hier. Eine dürfte genügen, damit Frau Gundlach schlafen kann.“
„Danke, Frau Dr. Hellberg“, sagte Helga und half der Ärztin in den Mantel. „Schicken Sie uns bitte Ihre Rechnung."
„Schauen Sie ab und zu nach Ihrer Freundin. – Gute Nacht."
Durch ein Fenster im Obergeschoss sah Brigitte die Ärztin zu ihrem Wagen gehen. Sie stellte die Tasche in den Kofferraum und lehnte sie sich sekundenlang mit hängenden Schultern gegen die Autotür. Dann straffte sie ihre Haltung, wischte sich mit den Fingerspitzen über die Wangen und stieg in ihr Fahrzeug.
Bedrückt kehrte Brigitte in ihr Schlafzimmer zurück. Sie hatte sich unmöglich benommen. Ohne Grund hatte sie diese junge Ärztin angegriffen und dadurch verletzt. Wie verloren sie dort draußen in der Dunkelheit gewirkt hatte. Anscheinend hatte sie sogar geweint. Dabei hätte sie ihr dankbar sein müssen, dass sie ihretwegen so spät noch gekommen war. Niedergeschlagen ließ sich Brigitte auf die Bettkante sinken. Was war nur aus ihr geworden? Wieso begegnete sie ihren Mitmenschen neuerdings so misstrauisch? Das leise Klopfen an der Tür schreckte sie aus ihren Gedanken.
„Komm rein, Helga!", rief sie die Freundin, die daraufhin mit sorgenvoller Miene eintrat.
„Warum liegst du nicht im Bett, Brigitte? Frau Dr. Hellberg hat gesagt, dass du viel Ruhe brauchst. Du solltest wenigstens versuchen zu schlafen."
„Ich kann jetzt nicht schlafen, und ich will es auch nicht!", erwiderte Brigitte energisch. „Eben ist mir das erste Mal bewusst geworden, wie sehr ich mich verändert habe." Betrübt zog sie die Freundin neben sich auf die Bettkante. „Sag mir bitte ganz offen, wann aus mir ein altes, argwöhnisches Weib geworden ist. War das nach Eduards Tod? Oder nach Tobias' plötzlichem Verschwinden? Oder war ich schon immer so, ohne dass ich es bemerkt habe? Hat Udo recht, wenn er mir vorwirft, dass ich unrealistisch und verbohrt bin?“
„Du bist weder das eine noch das andere", widersprach Helga. „Natürlich haben diese Schicksalsschläge dich verändert. Das ist aber normal, wenn man zuerst den Mann und dann das einzige Kind verliert. Trotzdem warst du immer ein einfühlsamer und gerechter Mensch. Lass dir von Udo nichts einreden. Manchmal ist er furchtbar unbedacht mit seinen Äußerungen."
„Udo meint es doch nur gut", nahm sie ihren Neffen in Schutz. „Ich bin froh, dass wenigstens er mir geblieben ist. Würde er mir nicht zur Seite stehen ..."
„Er fährt ja auch nicht gerade schlecht dabei. Als dein einziger lebender Verwandter ..."
„Ich weiß, du glaubst auch, dass Tobias tot ist", unterbrach Brigitte sie erregt. „Aber das ist nicht wahr! Ich bin seine Mutter; ich spüre, dass Tobi noch lebt! Irgendwann werde ich ihn finden!“
„Bitte, beruhige dich." Tröstend legte sie den Arm um die Schultern der Freundin. „Es ist nun mal eine traurige Tatsache, dass Tobias schon so lange verschollen ist. Seitdem gibt es kein Lebenszeichen von ihm. Deshalb kann man zumindest nicht ausschließen, dass ihm etwas zugestoßen ist."
Читать дальше