„Sehr selbstbewusst klingt das aber nicht."
„Früher besaß Brigitte ein gesundes Selbstbewusstsein. Überall war sie strahlender Mittelpunkt – ohne sich dafür in Szene zu setzen. Aber dann hat sie ihre kleine Familie verloren und sich immer mehr zurückgezogen. Seitdem nimmt sie kaum noch an kulturellen oder gesellschaftlichen Ereignissen teil. Im Grunde hat auch Brigittes Leben mit Eduards Tod geendet."
Gedankenverloren schweifte Manuels Blick durch den Raum. Er sah, dass einer der Gäste Brigitte an der Tür abfing und zum Tanz führte. Da Helga im gleichen Moment vom Bürgermeister aufgefordert wurde, beschloss Manuel, sich am üppigen Buffet zu stärken. Nach wenigen Schritten sah er sich jedoch Stella Kleve gegenüber.
„Sie werden mir heute Abend doch wenigstens einen Tanz schenken", sprach sie ihn lächelnd an und hängte sich wie selbstverständlich bei ihm ein. „Kommen Sie, Manuel, ich verspreche auch, dass ich Ihnen nicht auf die Füße trete.“
Nur widerstrebend ließ er sich von ihr mitziehen, da er ahnte, welche Tanzposition diese Frau bevorzugte. Tatsächlich schmiegte sie sich ungeniert an ihn, als seien sie sehr vertraut miteinander.
„Frau Kleve ...", begann er, wurde aber von ihr unterbrochen.
„Stella", korrigierte sie ihn mit strahlendem Lächeln. „So schwer kann das doch nicht sein, Manuel. Versuchen Sie es."
„Stella", wiederholte er geduldig, wobei er sich vergeblich um etwas Distanz zwischen seiner Brust und ihrem freizügigen Dekolleté bemühte. „Ich denke ..."
„Sie sollen nicht denken, sondern fühlen", unterbrach sie ihn abermals. Sie hatte bereits einige Gläser Champagner getrunken und war in der richtigen Stimmung für einen heißen Flirt. Der gut aussehende Schriftsteller schien genau der richtige Mann dafür zu sein.
Nicht so Manuel. Er hatte Brigittes Blick bemerkt, als sie im Arm eines Landtagsabgeordneten vorbeitanzte. Ihre Augen schienen zu sagen: Ich wusste es, du bist doch nicht anders als die Männer, die Stella gewöhnlich im Handumdrehen verfallen.
Insgeheim beschloss er, Brigitte sehr bald vom Gegenteil zu überzeugen. Da sie aber anschließend mit ihrem Neffen und danach mit dem Antiquitätenhändler tanzte, wurde vorläufig nichts aus seinem Vorsatz. Ihn beschlich sogar das Gefühl, dass Brigitte ihn plötzlich mied, während er beobachtete, wie sie angeregt mit einigen Gästen plauderte, mit Udo einen Cognac trank und mit dem Bürgermeister lachte. Ihn selbst schien sie gar nicht mehr zu beachten.
„Was machst du denn für ein ernstes Gesicht, Paps?", sprach Mona ihren Vater an. „Liegt das daran, dass du überhaupt noch nicht mit deiner einzigen Tochter getanzt hast?"
„So wird es wohl sein", erwiderte er, wobei er sich zu einem Lächeln zwang, und ihre Hand ergriff. Dadurch entging ihm, dass Brigitte sich gerade mit den Fingerspitzen über die Stirn strich und für einen Moment die Augen schloss.
Eine Entschuldigung murmelnd, ließ sie den Bürgermeister und dessen Gattin stehen und bahnte sich einen Weg zwischen den Gästen hindurch bis in die Halle. Abrupt verhielt sie dort ihren Schritt. Eigenartigerweise war ihr entfallen, weshalb sie die Party verlassen hatte. Stattdessen fühlte sie sich plötzlich seltsam beschwingt, als schwebe sie auf Wolken. Leise lachend kehrte sie in den Wohnraum zurück. Da sie dabei ein wenig ins Schwanken geriet, streifte sie kurzerhand die hochhackigen Pumps von den Füßen und setzte ihren Weg mit den Schuhen in den Händen und einem entrückten Lächeln auf dem Gesicht fort.
Die ersten Gäste wurden aufmerksam, als Udo seine Tante besorgt ansprach.
„Was ist mit dir, Tante Biggi? Fühlst du dich nicht wohl?"
„Ich fühle mich so großartig wie schon lange nicht mehr", behauptete sie und drückte ihm einen der beigefarbenen Pumps in die Hand. „Hier, den schenke ich dir als Andenken an diesen wundervollen Abend", kommentierte sie, ehe sie sich umwandte und auch dem Bürgermeister einen Schuh verehrte.
Verwundert unterbrachen Manuel und seine Tochter ihren Tanz, wobei sie einen beunruhigten Blick wechselten.
„Du solltest dich jetzt besser zurückziehen", riet Udo seiner Tante eindringlich und griff nach ihrem Arm. „Anscheinend hast du zu viel getrunken und gehörst ins Bett."
Unwillig befreite sie sich aus seinem Griff.
„Lass mich in Ruhe, Udo! Ich bin nicht betrunken! Jetzt werde ich mich richtig amüsieren!"
Schwungvoll drehte sie sich herum, um ihre Worte in die Tat umzusetzen. Ihr Neffe folgte ihr mit dem Schuh in der Hand, wobei er beschwörend auf sie einredete.
„Bitte, Tante Biggi", wiederholte er mit unterdrückter Ungeduld, als sie bei den Hellbergs stehenblieb. „Ich bringe dich jetzt rauf."
„Halt endlich den Mund!", wies sie ihn scharf zurecht, bevor sie Manuel mit strahlendem Lächeln anschaute. „Da ist ja der Mann, den ich jetzt brauche!", rief sie begeistert aus und schlang die Arme um seinen Hals. „Tanz mit mir, Held meiner wilden Träume."
Um die aufkommende Spannung zu entschärfen, ging Manuel auf ihre Forderung ein und begann, sich mit Brigitte im Rhythmus der Musik zu bewegen. Eng schmiegte sie sich an ihn und kraulte ihn selbstvergessen im Nacken.
„Sie scheinen in bester Stimmung zu sein", flüsterte er an ihrem Ohr. Ihre unmittelbare Nähe war ihm keineswegs unangenehm. „Woran liegt das?"
„Nur an dir", gestand sie mit rauchiger Stimme. „Du bist ein toller, sinnesverwirrender Mann." Mit glänzenden Augen hielt sie seinen Blick gefangen. „Ich will dich, Manuel."
Es war unübersehbar, dass dieser Wunsch aus tiefstem Herzen kam. Plötzlich und unerwartet küsste sie Manuel ungeniert auf den Mund. Instinktiv nahm er diese Einladung an und genoss ihre vorbehaltlose Hingabe. Schlagartig wurde ihm jedoch bewusst, wo sie sich befanden. Atemlos trennte er sich von ihren Lippen, worauf sie bedenklich schwankte – als würde sie jeden Moment den Halt unter den Füßen verlieren.
„Huch! Es wackelt auf einmal alles!", verkündete sie vergnügt und griff Halt suchend nach seinem Arm. „Ist das deine Wirkung auf mich oder ein Erdbeben?"
„Das werden wir schon noch herausfinden", sagte er und hob sie kurz entschlossen auf seine Arme. „Sie müssen sich ein wenig hinlegen. Verraten Sie mir, wo sich Ihr Schlafzimmer befindet?"
„Ob ich das riskieren kann?“, fragte sie übermütig. „Wenn du versprichst, ganz lieb zu mir zu sein, zeige ich dir, wo mein Bett steht." Zärtlich strich sie mit den Fingerspitzen über seine Wange. „Es ist ein großes Bett mit Platz für zwei.“
Da berührte Helga den Schriftsteller am Arm.
„Kommen Sie, Herr Hellberg, ich führe Sie nach oben."
„Feiert ruhig ohne uns weiter; wir haben jetzt was Besseres vor!", rief Brigitte den schockierten Gästen zu, als Manuel sie hinaustrug.
Beunruhigt folgte ihnen auch Mona die Treppe hinauf.
„Ich verstehe das nicht", wandte Helga sich mit gedämpfter Stimme an die Ärztin, während Manuel seine leichte Last behutsam auf das breite Bett legte. „Brigitte wirkt total beschwipst, dabei hat sie kaum was getrunken."
„Sind Sie sicher?"
„Absolut. Sie trinkt nie mehr als ein oder zwei Gläser."
„Hat sie vielleicht Medikamente genommen?", fragte Mona, als auch ihr Vater zu ihnen trat. „Irgendwelche Tabletten, die die Wirkung des Alkohols verstärkt haben könnten?"
„Nicht, dass ich wüsste", verneinte Helga. „Dafür gab es auch überhaupt keinen Grund."
„Merkwürdig ist das schon", überlegte Mona. Mit ernster Miene wandte sie sich an ihren Vater. „Paps, sei bitte so lieb und hol meine Bereitschaftstasche aus dem Wagen. Vorsichtshalber möchte ich Brigitte untersuchen."
Wortlos nickte er und verließ mit langen Schritten das Schlafzimmer.
„Warum läuft er denn weg?", vernahmen sie Brigittes enttäuscht klingende Stimme, worauf Mona und Helga ans Bett traten.
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