„Bitte, bleiben Sie", sagte Mona erschrocken. „Oder halten Sie mich für so oberflächlich, dass ich Sie für die Fehler Ihres Sohnes verantwortlich mache?"
„Nein, aber ..."
„Dann lassen Sie uns bitte wie erwachsene Menschen darüber sprechen. – Oder möchten Sie gehen, weil ich die Frau bin, wegen der Tobias anscheinend nach Südamerika verschwunden ist? Wäre ich nicht gewesen ..."
„Um Himmels willen, nein!" Rasch nahm Brigitte wieder Platz und legte die Hand auf den Arm der Ärztin. „Sie haben sich nichts vorzuwerfen. Wie könnte ich es Ihnen verübeln, dass Sie meinen Sohn geliebt haben? Es waren die Umstände, die dazu geführt haben, dass Tobias Ihnen nicht genug vertraut hat. Die negativen Erfahrungen mit seiner ehemaligen Verlobten haben den Jungen geprägt. Trotzdem war Tobias niemals ein schlechter Mensch. Das wissen wir beide, nicht wahr!?"
„Sein Verständnis für andere und seine Hilfsbereitschaft waren bewundernswert. Im Scherz hat er manchmal gesagt, dass er eifersüchtig sei. Trotzdem habe ich nie verstanden, weshalb Tobias mir so wenig vertraut hat. Oft habe ich mich gefragt, wie er sich verhalten hätte, wenn ich ihm an jenem Abend die Neuigkeit erzählt hätte, von der ich selbst erst einige Stunden vorher erfahren hatte."
„In seiner Verfassung hätte er vielleicht daran gezweifelt, der Vater zu sein. Immerhin glaubte er plötzlich, einen Grund zu haben, an Ihrer Treue zu zweifeln. Das muss Tobias enorm zugesetzt haben, sonst hätte er nicht Hals über Kopf alles aufgegeben. Ich bin überzeugt davon, dass mein Sohn Sie sehr geliebt hat."
„Wir sollten die Vergangenheit ruhen lassen. Ich bin über die Enttäuschung hinweggekommen, und auch Sie mussten sich damit abfinden, dass Ihr Sohn nicht wiederkommt."
„Ich gebe die Hoffnung nicht auf", widersprach Brigitte. „Eine Mutter spürt, ob ihr einziges Kind am Leben ist. – Obwohl außer mir alle vom Gegenteil überzeugt sind. Sogar mein Neffe hat mir geraten, Tobias für tot erklären zu lassen, aber das werde ich niemals tun. Tief in mir weiß ich, dass Tobi eines Tages zurückkommt."
„Das wünsche ich Ihnen von Herzen", sagte Mona, und es klang aufrichtig. „Zwar habe ich damit vor langer Zeit abgeschlossen, aber ich weiß, wie schwer der Verlust eines Kindes wiegt. Selbst wenn es noch nicht geboren war, wenn man es niemals im Arm halten durfte ist es, als sei ein Teil von einem selbst unwiederbringbar verloren."
„Deshalb klammert man sich an die Hoffnung", fügte Brigitte hinzu, bevor ihr ernster Blick in banger Erwartung ihre Augen suchte. „Bitte, halten Sie mich nicht für aufdringlich, aber ... Denken Sie, wir beide könnten Freundschaft schließen? Ich fühle mich Ihnen irgendwie verbunden. Tobias hat Sie geliebt und ..." Verlegen senkte sie die Lider. „Ach, ich bin eine sentimentale, alte Frau, die ..."
„Das sind Sie nicht", unterbrach Mona sie und griff nach ihrem Weinglas. „Trinken wir auf die Freundschaft, Frau Gundlach?"
„Brigitte", korrigierte sie die Ärztin bewegt, während sie ebenfalls ihr Glas nahm. „Darf ich Sie Mona nennen?"
„Gern."
Dankbar ließ Brigitte ihr Glas an dem ihren klingen.
„Am Samstag werde ich eine Party geben", erzählte sie dann. „Ich möchte Sie bitten, mein Ehrengast zu sein, Mona."
„Das ist lieb gemeint, aber mein Vater kommt morgen zurück. Ich würde ihn nur ungern allein lassen."
„Selbstverständlich gilt die Einladung auch für Ihren Herrn Vater. Ich würde mich freuen, Sie beide in meinem Haus begrüßen zu können. An diesem Abend würden Sie einige wichtige Leute der Stadt kennenlernen." Amüsiert blitzte es in ihren Augen auf. „Oder solche, die sich dafür halten. Mein Neffe hat auch schon zugesagt."
„Gehört er zu den wichtigen Leuten - oder zu den anderen?"
„Eine kluge Frage", meinte Brigitte belustigt. „Zumindest ist Udo in einer wichtigen beruflichen Position. Er ist Geschäftsführer von Edugu-Pharma."
„Edugu-Pharma", wiederholte Mona nachdenklich. „Vor ein paar Tagen war ein Arzneimittelvertreter dieser Firma bei mir in der Praxis. Soweit ich mich erinnere, erwähnte er, dass der Konzern hier im Umland ansässig ist."
„Schon seit Jahrzehnten. Der Großvater meines Mannes hieß auch Eduard. Er hat die Firma gegründet. Seitdem wird sie von Generation zu Generation weitergegeben."
„Edugu-Pharma gehört Ihnen?“
„Neben einigen Kleinaktionären halte ich immer noch die Hauptanteile des Konzerns."
„Das ist unglaublich", murmelte Mona enttäuscht. „Nicht einmal in dieser Hinsicht hat Tobias mir vertraut. Einen kleinen Betrieb auf dem Land hat er die Firma seiner Eltern genannt! Für wen hat er mich gehalten? Für eine Mitgiftjägerin? Kannte er mich so wenig, dass er gefürchtet hat, meine Gefühle für ihn hingen von seinem Vermögen ab? Allmählich frage ich mich, ob er überhaupt jemals aufrichtig zu mir war! Wahrscheinlich hat er sich nur für mich interessiert, weil ich seinem Charme so lange widerstanden habe!" Niedergeschlagen brach sie ab und strich sich über die Stirn. „Tut mir leid, ich ... Diese Neuigkeit bringt mich ziemlich durcheinander."
„Ich kann nachempfinden, wie Ihnen zumute ist", sagte Brigitte verständnisvoll. „Womöglich fürchtete Tobias, das Dilemma mit seiner ehemaligen Verlobten könne sich wiederholen. Diese Frau war einzig an dem Gundlach-Vermögen interessiert: Bei jeder Gelegenheit hat sie meinen Sohn belogen und betrogen. Das war eine niederschmetternde Erfahrung für ihn." Eindringlich schaute sie die Ärztin an. „Bitte, denken Sie nicht gar so schlecht von Tobias. Auch negative Erfahrungen prägen einen Menschen, ängstigen ihn zuweilen. Die Furcht, denselben Schmerz noch einmal durchleben zu müssen, führt gelegentlich zu Verschlossenheit und Misstrauen. - Auch wenn real gar keine Veranlassung dazu besteht."
„Wahrscheinlich haben Sie Recht. Nach so langer Zeit ist es ohnehin müßig, darüber nachzudenken. Man kann die Vergangenheit nicht ändern."
Bevor Mona an diesem Abend einschlief, dachte sie noch lange über das Gespräch mit der Mutter des Mannes nach, der ihr einmal so viel bedeutet hatte...
2003
Mona Hellberg war glücklich: Sie hatte in Tobias Gundlach ihre große Liebe gefunden. Seit einigen Stunden war sie sogar überglücklich - seit sie wusste, dass sie in acht Monaten ein Kind haben würde – ein Kind der Liebe. Diese Schwangerschaft war ganz und gar nicht geplant. Sie war ein „Verkehrsunfall“. Trotzdem konnte sie es kaum erwarten, Tobias mit der Neuigkeit zu überraschen. Bestimmt würde er sich genauso sehr freuen. Schon oft hatten sie Zukunftspläne geschmiedet, in denen Kinder einen besonderen Platz einnahmen. In drei Wochen, am sechzigsten Geburtstag seines Vaters, plante Tobias, seinen Eltern seine künftige Frau vorzustellen. Bei dieser Gelegenheit wollte er seine Verlobung mit Mona Hellberg bekanntgeben. Sie war schon sehr gespannt auf ihre Schwiegereltern in spe, mit denen Tobias anscheinend liebevoll verbunden war. Was mochten sie wohl sagen, wenn sie erführen, dass sie bald Großeltern würden?
„Sie werden sich freuen", murmelte Mona lächelnd, während sie die Einkaufstüten in ihrem kleinen Klinik-Apartment auspackte. Zur Feier des Tages wollte sie etwas ganz Besonderes kochen. So bereitete sie zunächst ein Dinner für zwei vor und dekorierte den gedeckten Tisch mit Blumen und Kerzen. Durch einen Blick zur Uhr stellte Mona fest, dass ihr noch reichlich Zeit zum Duschen blieb. Tobias würde erst in etwa zwei Stunden kommen, da er vorher noch mit seinem Cousin verabredet war. Eine leise Melodie summend, entkleidete sie sich und verschwand im Bad.
Sie kam gerade wieder unter der Dusche hervor, als sie es läuten hörte. Rasch griff Mona nach ihrem Bademantel und schlüpfte hinein. Erwartungsvoll lief sie barfuß in die Diele und öffnete. Es war aber nicht Tobias, sondern ihr Oberarzt, der draußen stand.
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