»Da ist ein Brief von Darius gekommen«, sagte sie, nachdem die Begrüßungen ausgetauscht waren. »Er schreibt, dass er ein Geschäft aufgebaut hat und bei irgendeiner Sache Deinen Rat braucht.«
»Ich und Geschäfte?«, fragte Wulf und faltete das Stück Papier auseinander. Mit elegantem Federstrich stand dort:
Ich grüße Euch, weiser Wulfhelm, edle Harika,
lang ist es her, das wir uns zuletzt sahen und viel hat sich seitdem ereignet. Meine Pläne, hier eine ähnliche Einrichtung wie die Festung aus der Hölle aufzubauen, trug endlich Früchte und ich kann mit Stolz behaupten, dass es sich bezahlt gemacht hat. Mittlerweile können wir damit unseren Lebensunterhalt bestreiten und ich bekomme Ausstellungsstücke aus allen Ecken des Landes oder gar von mutigen Kapitänen, die andere Scherben besucht haben. Ihr müsst uns unbedingt einmal besuchen kommen und es Euch ansehen.
Der Grund meines Schreibens ist aber ernsterer Natur. Auf seltsamen Wegen ist eine kleine, goldene Schatulle in meinen Besitz gelangt. Sie war wohl schon zur Begutachtung in der magischen Akademie in Kaisersruh. Bist Du noch Dozent dort? Vielleicht hast Du davon gehört, denn ich würde gern Deinen Rat dazu hören. Bring am Besten Harika und Avion mit, dann machen wir uns ein paar schöne Tage in Palmenhain, so wie früher.
Liebe Grüße von Alandra und mir, auf ein baldiges Wiedersehen.
Dein Freund Darius
»Das klingt ja geheimnisvoll«, murmelte Wulf und steckte den Brief in eine der geräumigen Taschen seiner Robe.
»Weißt Du, wovon er da schreibt?«, fragte Harika und füllte die Teller ihrer Lieben mit einer Art Geschnetzeltem.
»Nein, aber das finden wir schnell heraus. Familie, wir machen einen Ausflug!«, sprach Wulfhelm voller Tatendrang mit erhobenem Zeigefinger und fügte dann hinzu: »Nach dem Essen.«
Im äußersten Norden des Landes Ardavil lag inmitten einiger sanfter Hügel die Hafenstadt Palmenhain. Bekannt war sie vor allem als Sitz der Propheten- und Wahrsagergilde, die die wöchentlich erscheinende Bald-Zeitung herausgab. Aber einen weiteren großen Stellenwert besaß die Stadt als Verbindungshafen zur nördlich gelegen Scherbe Daschûn. Der Handel mit dem rauen, eisbedeckten Land war der Hauptwirtschaftszweig Palmenhains und bescherte seinem Landesfürsten, Anselm III, ein prall gefülltes Stadtsäckel. Der Unterhalt der größten Galeerenflotte Ardavils war somit ein eher geringes Problem und Anselm galt als dem Kaiserhaus treu ergeben.
Wie die Stadt zu ihrem Namen kam, wird aber wohl immer ein Geheimnis bleiben, denn in einem großen Umkreis gab es nur Tundra und Nadelgehölze.
Mittels eines Gruppentransportzaubers war Wulfhelms Familie an der Position eines Runensteins in seiner Tasche in einem kleinen Tannicht unweit der Stadtmauern aus den astralen Sphären aufgetaucht. Dieser Zauberspruch war die zweithöchste Stufe der Transportzauber und sagte bereits einiges über die arkanen Fähigkeiten des Zauberers aus. Die höchste Stufe hatte er allerdings noch nicht gemeistert: sperrige Speditionsgüter, wie etwa Klaviere, oder begehbare Kleiderschränke. Mithilfe des Runensteines wurde ein Fixpunkt für den Zauber geschaffen und bei Briefkästen funktionierte es ähnlich, nur verblieb der Stein dort am Gerät.
Um zu vermeiden, dass durch das plötzliche Auftauchen dreier Personen aus dem Nichts arglose Passanten an Herzversagen verschieden, wählten verantwortungsvolle Zauberer einen möglichst unbevölkerten Zielpunkt für die Kennzeichnung eines Runensteines aus. Wulfhelm, Familienvater und Pädagoge, stellte sich natürlich solchen Herausforderungen und ging nun mit festem Schritt voraus, seinen Sohn Avion direkt hinter sich.
Der Junge kam ganz nach seiner Mutter, jedenfalls was die Haarfarbe, und seine Vorliebe für den Kampf mit gewöhnlichen Waffen betraf. Er trug eine einfache, dunkelbraune Hose aus Leinen und eine Tunika in der Farbe von unbehandelter Schafswolle. Von seinem Gürtel baumelte eine Lederscheide mit einem nicht ungefährlich aussehenden Dolch.
Harika war in eine lange Lederhose und ein dick gepolstertes Wams gekleidet. Leichte Rüstung, jedoch nicht wehrlos, wie auch das Langschwert an ihrer Seite deutlich machte. Eigentlich sollte auf einer so kurzen Reise nichts passieren, aber wer konnte das schon so genau wissen?
Es war nicht besonders warm in diesem Landstrich, auch wenn es langsam auf den Sommer zuging. Die Luft duftete intensiv nach Baumharzen, gemischt mit einem erdigen Single Malt Geruch, der vom Meer des verlorenen Tropfens herüber getragen wurde.
Auf einem Hügel innerhalb der Stadt thronte die Burg von Anselm III und war schon von außerhalb der trutzigen Verteidigungsmauern gut zu sehen. Die Gardisten am Stadttor bemühten sich, ein möglichst entschlossenes und finsteres Gesicht zu machen. Wulfhelm seinerseits legte so viel Würde in seinen Auftritt, wie es seine hochgeschossene - wenn auch nicht sehr muskulöse - Figur, sowie der gezückte Gelehrtenausweis, gestattete. Dieser bescheinigte seinem Träger, dass er zur wissenschaftlichen Elite im Dienst ihrer Majestät, Kaiserin Naphenima VI, gehörte, und öffnete viele Türen. So ließen ihn auch diesmal die Wachen ohne viel Aufhebens passieren und stützten sich wieder gelangweilt auf ihre Hellebarden, als die Familie in den Straßen Palmenhains verschwand.
Das Stadtbild war geprägt von den sehr schmalen, hohen Gebäuden, die sich leicht windschief in die engen Gassen beugten. Selten war ein Wohnhaus breiter als vier Schritte, erstreckte sich dafür umso weiter in die Tiefe und bildete mit seinen Nachbarn oft große Blöcke, die über einen gemeinsamen Innenhof verfügten. Hier fand das gesellschaftliche Leben dieser Nachbarschaften statt, welches sich in gemeinschaftlichen Grillfesten, Brettspielen und Kindergruppen äußerte. Die mit Kopfsteinen gepflasterten Straßen und Gassen Palmenhains waren daher eher gering und überschaubar. Eine Ausnahme bildete das Zentrum mit seinem großen Marktplatz, der von öffentlichen Gebäuden umrahmt war. Hier fand man einige Tempel, eine Universität, ein Gasthaus mit Fremdenzimmern sowie die Adresse, die auf dem Briefumschlag von Darius zu lesen war.
Als sie ihre Freunde das letzte Mal besucht hatten, wohnten sie noch in der Nähe des Hafens. Das Gebäude, vor dem sie nun standen, ließ sie staunend und mit offenen Mündern davor innehalten. Eine Sandsteintreppe führte zu einer breiten Fassade hinauf, die von mächtigen Säulen getragen wurde.
»Da wohnen die doch nicht jetzt, oder?« Harika begann, die Treppe zu erklimmen.
»Wer weiß, aber erinnerst Du Dich, was Darius geschrieben hat? Wenn es sich um etwas Ähnliches wie die Festung in der Hölle handelt, dann ist das wohl ein öffentliches Gebäude.«
Durch eine schwere, eisenbeschlagene Tür gelangten sie in eine kleine Halle. Hier war es deutlich kühler als draußen. Nur durch ein farbiges, rundes Mosaikfenster im spitzen Giebel, drangen spärliche, Sonnenstrahlen und tauchten den Raum in ein buntes Halbdunkel. Die Abbildungen zeigten maritime Szenen mit Schiffen und dem Schutzgott der Zecher und Alkoholumnebelten, Grumuk. An der hinteren Wand der Halle führte ein Gang tiefer in das Gebäude, der von zwei jeweils zehn Schritte hohen Statuen flankiert wurde. Das unheimliche Dämmerlicht und die niedrige Temperatur veranlassten Avion dazu, sich eng an seine Mutter zu drängen. Neben dem Eingang gab es einen Tresen, hinter dem ein junger Mann stand und sie freundlich anlächelte: »Immer hereinspaziert! Hier können sie die größten Schätze der bekannten Scherben bestaunen! Kinder in Begleitung eines Erwachsenen haben freien Eintritt.«
In Erinnerungen schwelgend zog Wulfhelm den Brief aus der Tasche und näherte sich dem Tresen: »Wir suchen Darius und die Adresse auf dieser Botschaft ist doch hier, oder?«
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