Du hast einmal davon gesprochen, du brauchtest so etwas wie ein Stück „heile Welt“. Übernimmt das Kinderbuch für dich diese Funktion? So heil ist die Welt der Kinder in deinen Büchern wiederum nicht. „Der hölzerne Kuckuck“ oder „Tschomolungma“ zum Beispiel vermitteln eher den Eindruck, dass du über das Kinderbuch versuchst, Zugang zu den Problemen der Erwachsenen zu finden und sie mit diesen spezifischen Mitteln darzustellen; die Scheidungsproblematik spielt beispielsweise eine große Rolle.
Für mich besteht zwischen Erwachsenen- und Kinderliteratur keine Trennung, die Abkapselung voneinander bedeutet. Ich glaube nicht, dass es eine spezielle Kinderproblematik oder Schreibweise für Kinder gibt. Literatur muss von ihren Lesern nur verstanden werden können, wobei eigenes Denken gestattet, ja verlangt ist. Natürlich sollte ich einem Erwachsenen, was Bildung und Lebenserfahrung betrifft, mehr zumuten können als einem Kind. Mit der Fantasie sieht es da schon anders aus. Hieran sind die Kinder reicher als die Erwachsenen. Die Fantasie des Kindes ist ein unerschöpflicher Quell reinsten Wassers. Die Kinderwelt ist für jeden, der da hineinwächst eine unentdeckte Welt, die es zu erobern gilt. Von den Erwachsenen noch nicht restlos beziffert und benannt, fordert sie die Schöpferkraft Fantasie des Kindes heraus. Wer für Kinder schreibt, muss dieser Fantasie - in der ein Hund allemal blau sein darf - Rechnung tragen. Er muss sich die Fantasie ins Erwachsensein hinübergerettet und die Spiele der Kindheit, sich die Welt anzueignen, nicht vergessen haben. Beim Schreiben für Kinder oder Erwachsene versuche ich nicht, eine Welt gegen die andere zu stellen. Ich erzähle Menschengeschichten, und beide Welten, die sich ja nur durch die jeweilige Sichtweise unterscheiden, sollen zu der einen werden, über die wir ja nur trotz aller Perspektiven und Nuancen verfügen. Die meisten Erwachsenenprobleme haben ihre Wurzeln in der Kindheit, in den ersten Berührungen mit der Welt. Um sich dieser Probleme, die sich ja oft in anderem Kostüm zeigen, bewusst zu werden, muss man in die Anfänge zurücksteigen. Ich glaube, der erwachsene Mensch ist weitgehend geprägt, er ist gar nicht so wandelbar und veränderbar, wie wir es manchmal gern hätten. Er hat seine „Grundsätze“ gefunden, nach denen er lebt, sein Fundament ist gelegt, auf dem er aufbauen kann. In der Kindheit lässt sich noch am ehesten Entwicklung beeinflussen. Hier entscheidet sich, was und wie einer wird. Es ist auch die Aufgabe des Schriftstellers, dafür zu sorgen, dass die Fantasie des Kindes auf seinem Erziehungs- und Bildungsweg nicht versiegt.
Das Stück heile Welt, von dem ich sprach, beziehe ich erst einmal nur auf mich. Sie ist ja im Wesentlichen ein Produkt der Fantasie, ein Inselchen zum Ausruhen und Träumen, eine Spielfläche für Unmögliches. Vielleicht ist das Selbsttäuschung, ein ins Erwachsensein gerettetes Stück Märchenwelt, ein selbst erstellter Zirkus. Aber braucht das nicht jeder? Ich brauche es dringend, wenigstens ab und zu. Es fällt mir nur immer schwerer, so ein Inselchen zu finden. Unsere Welt ist nun mal eine andere. Für länger und ganz gibt sie uns nicht frei, und das ist wohl auch gut so, sonst würden wir wohl bald ihren Untergang mit ansehen müssen. Dieses Stück „heile Welt“ darf ich in meinen Büchern den Kindern natürlich nicht als Weltersatz anbieten; dann würde ich sie belügen und zu lebensuntüchtigen Menschen erziehen. Die Kinderwelt ist ebenso wenig heil wie die der Erwachsenen. Ich sage es noch einmal: es ist ein und dieselbe untrennbare Welt, unsere Welt. Ich versuche, die Kinder frühzeitig an unsere Probleme heranzuführen, ihre Augen für die Realwelt zu öffnen, ihnen Verantwortung zu geben in ihrem Umgang mit ihr. Für Kinder ist das Buch ein notwendiger Partner, an dem sie die selbst gemachten Erfahrungen überprüfen können. Kinder werden mit Büchern, mit den Lebensschicksalen ihrer „Helden“ groß. Nicht allein durch sie, aber mit ihnen reifen sie, sind sie zur Auseinandersetzung gezwungen mit sich selbst und ihrer Umwelt.
Es gibt eine Stelle in deinem „Muzelkopp“, da sagt er: „Kinder sind das Großartigste, was ich kenne, und wenn ich mir manchen Typ angucke, will ich's nicht glauben, dass er jemals ein Kind gewesen ist.“ Neben der großen Liebe zum Kind, die in allen deinen Büchern deutlich wird, taucht hier für mich das Problem auf, im Kind das zu suchen, was im Erwachsenen schon verloren gegangen ist.
Vielleicht habe ich es mir damit etwas leicht gemacht, indem ich unerfüllte Hoffnungen und Sehnsüchte der Erwachsenen in die Kindheit geschoben habe, wo ja noch alles möglich scheint. Doch das ist kein Weg, der voranbringt, das ist eine Sackgasse. Man darf den Kindern nicht seine Defizite aufhalsen, damit die eigene Welt doch noch in Ordnung kommt. Wunderheilungen sind nicht ihre Aufgabe und liegen außerhalb ihrer Möglichkeiten. Natürlich ist der Glaube an die Kinder Zukunftsglaube; aber Kindheit ist nicht Zukunft, sondern Gegenwart, dieselbe Gegenwart, derselbe Augenblick, in dem sich auch die Erwachsenen befinden. Allerdings sehe ich in der Kindheit ein magisches Zentrum von Zeit. Sie ist kein Neubeginn, sie ist der Einstieg eines Menschenwesens in seine Zeit.
Dieser Einstieg ist von Glauben und Wundern begleitet, und die Annäherung an Realität bringt ihren Verlust, aber auch den Gewinn der Erkenntnis mit sich. Der Glaube verlangt nach Wissen, der Traum will sich mit der Tat befreien. Das Kind verliert die Fähigkeit zu fliegen, sich aus einer Handvoll Steine eine Burg zu bauen. Es wird eine Idee finden und zu ihrer Verwirklichung tätig werden müssen. Mit dieser Verantwortung wird aus dem Kind ein Erwachsener, und der wird in gesellschaftlichen Regeln leben, die das Fliegen des Kindes, seinen Glauben an Wunder als Illusion, als einen Kindertraum erklären. Es gibt kein zurück in die Kindheit, ohne die Gegenwart und damit sich selbst zu verleugnen. Als Geschichtenschreiber für Kinder habe ich die Pflicht, ihnen Realität bewusst werden zu lassen, ohne die ihnen innewohnende Kraft der Fantasie zu zerstören. Ich möchte ihren Glauben und ihr Hoffen auf sich selbst, auf ihre Mitmenschen und die sie umgebende Welt lenken.
Peter, der Held deines vorläufig letzten Buches „Tschomolungma“, besteht auf seiner Einmaligkeit und stößt sich dabei Wunden, die nur schwer vernarben. Er entwickelt in hohem Maße Gefühlsreichtum, Sensibilität und macht sich zum Außenseiter. Du stellst ihm die Figur des Bulli gegenüber: Ein Junge, erfolgreich, anerkannt von den anderen wegen seiner Stärke, integriert ins Klassenkollektiv, selbstbewusst, robust. Dennoch, dieser Bulli beweist ebenfalls seine Individualität, ist alles andere als ein „Pulkbulle“, wie du es einmal an anderer Stelle ausdrücktest. Er besitzt und entwickelt nur andere Eigenschaften als Peter und entfaltet sie auf andere Weise. In der Erzählung „Den Schienen nach“ fasst du das eigentliche Problem mit den Worten: „Sie möchte werden wie du: Ein starker Mensch, der etwas aus seinem Leben zu machen weiß.“
Der Satz vom starken Menschen, der etwas aus seinem Leben zu machen weiß, ist doch sehr allgemein. Er meldet den Anspruch an ein sinnerfülltes Leben an. Die Wege zur Erfüllung dieses Anspruchs sind äußerst vielgestaltig, da eben jeder nur auf seinem Wege „recht“ gehen kann. Die entscheidende Frage ist doch: Wie groß ist der Raum, den die Gesellschaft ihren Menschen zur Selbstverwirklichung lässt? Er kann nicht endlos sein und sollte sich im vernünftigen Maßstab der gesellschaftlichen Ordnung befinden. Ein Ideal zu seiner Ausgestaltung sollte schon gegeben werden, wenn er auch jederzeit offenbleiben sollte zur Neugestaltung. Wir Menschen brauchen Ziele, die uns einer Gemeinschaft, der wir uns im Fühlen, Denken und Handeln verwandt fühlen, näher bringen.
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