Außerdem wollte er den Kindern Gelegenheit geben, die wenigen Tage, die sie vom Internat beurlaubt waren, mit ihm zu verbringen.
Die Innenstadt pulsierte in hektischer Samstagsstimmung. Elegant dekorierte Schaufenster. Spaziergänger. Manche genossen den freien Nachmittag oder stimmten sich auf den Sonntag ein. Andere nützten die wenigen Stunden, um letzte Weihnachtseinkäufe zu erledigen. Es wimmelte von Menschen mit roten Gesichtern und fröhlichem Blitzen in den Augen.
Der Schnee begann zu schmelzen. Von den Dächern klatschten dicke Tropfen. Der Hausmeister sollte Warnstangen aufstellen, es könnte eine Dachlawine abgehen, überlegte er. Die Realität hatte ihn eingeholt.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte er den Schwur getan, seinen Schwiegersohn zu vernichten. Ihn für all das Leid in seiner Familie zu bestrafen.
Sein Kampf hatte sich gelohnt. Ein teuflisches Schicksal hatte dem Elenden den Gnadenstoß versetzt und Baumann damit von einer schweren Last entbunden. Zu spät für dich mein Kind, dachte er wehmutsvoll. Es tut mir so unendlich Leid. Ich konnte dich nicht vor deinem traurigen Schicksal bewahren. Verzeih mir.
„Kann ich dich jetzt alleine lassen?“, mit besorgter Miene hatte Wieland seinen Freund während der Fahrt beobachtet.
„Lass gut sein, Kurt. Kümmere dich bitte um meine beiden Kleinen. Gib ihnen die Kraft, die ich mir erst wieder holen muss. Morgen sehen wir uns, mein Alter.“
Baumann stieg aus, warf die Wagentür hinter sich zu. Nach zwei Schritten machte er kehrt, hieß Kurt das Fenster öffnen. „Grüße unsere Henni von mir.“
Henriette Wieland, von allen in der Familie kurz Tante Henni genannt, war Kurts Gattin und seine älteste und beste Freundin seit frühester Jugend. Was hätte er ohne sie gemacht, als seine Valentina damals viel zu früh von ihm gegangen war. Henni war da, immer und überall. Tröstete, half, umsorgte Britt, spendete Frieden und Freude. Sie war der gute Geist in allen Lebenslagen.
Seit dem Tod Valentinas ersetzte sie Britt oft die Mutter. In der Firma hatte sie ein schier unerschöpfliches Reservoir an guten Ratschlägen bereit. Es konnte kommen, was oder wer wollte, sie wusste eine Lösung, sprang hilfreich ein. Selbstlos, uneigennützig. Als Chefsekretärin und langjährige Mitarbeiterin war sie eine allseits respektierte Persönlichkeit. Der Weg zum Chef führte ausschließlich über ihren Schreibtisch. Unangemeldet hatte man keine Chance. Angemeldet ließ sie die Kundschaft je nach Sympathie zumindest eine Stunde, manchmal auch länger warten. Mit allen Problemen und persönlichen Eigenarten ihres Chefs hinlänglich vertraut, hatte sie sein volles Einverständnis für ihr Tun. Der engmaschige Terminkalender irritierte sie kaum. War sie einmal nicht da, was tatsächlich höchst selten vorkam, lief zumindest einiges, wenn nicht alles, schief.
Es fiel Baumann schwer, sich aufrecht zu halten. Erschöpft, unsäglich traurig, einsam war er. Aber Henni würde wieder da sein mit ihrer Engelsgeduld und ihrem offenen Herzen. Sie würde die Schatten verjagen helfen.
l. Kapitel
Berthold Baumann war im Frühling 1926 in der Hinterbrühl bei Wien zur Welt gekommen. Hineingeboren in eine gute Zeit, in eine intakte Familie, die es durch Tüchtigkeit und Fleiß zu beachtlichem Besitz und Vermögen gebracht hatte: ein schlossähnliches Herrenhaus am Stadtrand, ein Gärtnerhäuschen, eine in die Landschaft eingebundene Garage, in deren Obergeschoss eine gemütliche Wohnung dem jeweiligen Chauffeur zur Verfügung stand. Ein prächtiges Anwesen mit großem Park, herrlichen Blumenrabatten. Das Herzstück des Gartens: ein Springbrunnen mit großem Auffangbecken, in dem sich im Sommer Dutzende Goldfische tummelten. Fasane und Pfaue spazierten in den weitläufigen Anlagen frei herum. Der Gärtner Fridolin schaltete und waltete in diesem Reich, seine Gattin Marlies diente der Familie als Kinderfrau. Sie stand ihm an Herzensgüte und Selbstaufopferung in keiner Weise nach.
Eine Köchin sorgte für das leibliche Wohl. Mit Liebe und Hingabe zauberte sie stets erlesene Köstlichkeiten auf den Tisch, egal zu welcher Zeit der Herr Gäste nach Haus brachte, oder die gnädige Frau ihre Wünsche äußerte.
Berthold verbrachte seine Kinderjahre in einer Atmosphäre der Ruhe, des Friedens, der Geborgenheit. Geld spielte keine Rolle. Man lebte nicht in Saus und Braus, weil man von Natur aus bescheiden war. Aber man konnte sich alles leisten, was das Herz begehrte und ließ auch die Dienstboten nie zu kurz kommen. Kein Streit trübte die herzliche Atmosphäre
„Was du in der Kindheit erlebst, mein Sohn, prägt dich fürs ganze Leben“, meinte der Vater.
Die Köchin Rosa kniff ihre fröhlichen Augen stets verschmitzt zusammen. Der kleine Bub fand die korpulente Frau wunderschön. Hinter ihren wallenden Röcken konnte er sich so wunderbar verstecken. Am liebsten hockte Berti unter dem großen Küchentisch und wartete geduldig, wie ein kleines Hündchen, auf einen Leckerbissen, der planmäßig für ihn abfiel.
Seine Mutter schimpfte manchmal und Marlies ließ ihren strengen Blick schweifen. Sie war groß und schlank, trug stets hochgeschlossene Kleider in ausnahmslos dunklen Farben. Scheinbar unnahbar, verschlossen, führte sie ein absolut despotisches Regime.
Der kleine Bert wusste es besser. Durch ihre vergoldete Brille blickte sie meist vorwurfsvoll. Sie hatte die amüsante Angewohnheit die Augenbrauen fragend hochzuziehen und unbeweglich, wie eine Schaufensterpuppe, zu ihm hinunterzublicken. Verdutzt dreinschauend, zupfte er sie dann am Rockzipfel und flüsterte mit Engelsstimme.
“Hab deinen Berti wieder lieb, meine gute, beste, allerliebste Marlies.“
Kein einziges Mal misslang ein solcher Versöhnungsversuch. Die Kinderzeit verging in Windeseile. Das Herumtollen mit Fridolin, der über die ausgelassenen Spiele mit dem kleinen Herrn sogar seinen quälenden Rheumatismus vergaß. Der Ernst des Lebens begann. Ein Chauffeur wurde eingestellt, der Berthold in die Volksschule, später dann ins Gymnasium der Piaristen brachte. Papa bestand auf den Besuch einer Privatschule. Er hatte alle Freunde aus der Volksschule verloren und vermisste sie. Mama versuchte ihn schon sehr früh für die edlen Dinge des Lebens zu gewinnen. Theatervorstellungen, sorgsam für den Geschmack des Jungen ausgewählt. Ballettabende und gute Musik.
Was moderne Rhythmen und das Leben an sich betraf: Diesen Bildungsgang absolvierte er zielstrebig mit und bei seinen Klassenkameraden.
Der junge Berthold liebte schon früh die erlesenen Kunstgegenstände im Geschäft, sehr zum Wohlgefallen des Vaters. Mit Geschick weckte er in seinem Kind die Liebe zu Kostbarem.
Auch der schönste Traum hat einmal ein Ende. Der Krieg war ins Land gezogen. Berthold war gerade siebzehn Jahre alt und hatte seine erste große Liebe gefunden.
Auf dem Tennisplatz hatte ihm seine Freundin Henriette dieses wundervolle Geschöpf vorgestellt: Valentina. Sein Herz jubelte. Verwirrt und überglücklich konnte er nicht mehr essen, nicht mehr schlafen.
Valentina. Ein anbetungswürdiges Geschöpf. Lange Beine, eine knabenhafte Figur, blondes schulterlanges, welliges Haar. Ein Gesicht wie aus Porzellan, ein makelloser Körper. Ihre strahlend blauen Augen lachten, schon ehe ihre Lippen sich dazu entschlossen. Sie spielte wunderbar Klavier und nahm Gesangsunterricht.
Ein Lächeln. Mitten im Satz war er verstummt. Starrte sie gebannt an. Den Kopf schräg gestellt, musterte sie ihn kurz. Ein leicht belustigtes Augenzwinkern. Eine eher kühle Kenntnisnahme seiner Verwirrung.
Aus einer vernünftigen, möglicherweise werbenden Konversation wurde lediglich das klägliche Stottern eines Primaners. Sein Gesicht hatte sich mit peinlicher Röte überzogen. Von einem Bein auf das andere zappelnd, suchte er vergeblich nach Worten. Kein brauchbarer Gedanke war zu finden. In seinen Gehirnwindungen tanzte ein verrückter Bienenschwarm.
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