Damit drehte sie sich um und ließ einen schmunzelnden Agnar stehen.
***
Mit einem Keuchen schreckte Gudney aus dem Schlaf, richtete sich hastig auf. Die Bilder aus ihrem Traum folgten ihr für einen Moment in die Realität, wirbelten um sie herum, aber bevor sie sie fassen und begreifen konnte, verblassten sie, rannen davon wie Wasser durch gefaltete Hände. Die Seherin des Dorfes fluchte leise. Seit die Männer auf Raubzug gegangen waren, wurden die Träume mit jeder Nacht intensiver, aber nach dem Erwachen schwand die Erinnerung daran viel zu schnell, ließ nur Bruchstücke zurück. Sie erinnerte sich an Jarl Eldors Gesicht und an das seines Bruders. Und an einen lachenden Mann mit dunklem Haar, den sie nicht kannte.
Noch immer außer Atem wischte Gudney sich die langen braunen Haare aus dem Gesicht und erhob sich von ihrem Lager, ging zur Fensteröffnung herüber, die nach Osten gewandt war und die ersten blassen Sonnenstrahlen des Morgens eindringen ließ. Darunter stand eine Schale mit Wasser auf einem hölzernen Tisch.
Gudney beugte sich über die Schale, versetzte sie in Schwingungen, bis die kleinen Wellen ihr Spiegelbild völlig zerrissen hatten, und wartete. Doch als die Wasseroberfläche wieder ruhig wurde, sah sie nur die eigenen grünen Augen. Keine der Visionen, die sie bekam, seit sie ein kleines Mädchen war, wollte kommen. Die junge Frau unterdrückte einen weiteren Fluch und zog sich nachdenklich an, trat dann vor ihre Hütte, die ganz in der Nähe des Gemeinschaftshauses in der Mitte des Dorfes lag. Als einzige unverheiratete Frau des Clans hatte sie ihre eigene Behausung, die sie mit niemandem teilen musste. Man glaubte, dass die Anwesenheit anderer Menschen die ungewöhnlichen Fähigkeiten einer Seherin störten und verhinderten, dass sie in die Zukunft sehen konnte. Und Gudneys Fähigkeiten waren sehr wichtig im Clan. Keine Beutefahrt fand statt, ohne dass man sie zuvor befragt hatte, keine Jagd, nicht einmal der Anbau von Feldfrüchten. Sie war außergewöhnlich jung für eine Seherin, hatte noch keine dreißig Sommer erlebt, aber sie irrte sich nie. Umso mehr machte ihr zu schaffen, dass sie die Bilder jetzt nicht greifen konnte. Es war wichtig, sehr wichtig, das fühlte die junge Frau.
Die kühle Morgenluft machte ihr den Kopf ein wenig klarer, und Gudney schlenderte gemächlich durchs Dorf. Es wurde langsam Herbst, die Blätter im nahen Wald hatten sich schon golden gefärbt, das Gras war kühl und feucht. Bald würde es Frost geben. Vereinzeltes Rascheln aus den Hütten zeigte an, dass die ersten Bewohner bereits erwacht waren, aber zwischen den hölzernen, mit Grassoden gedeckten Gebäuden war noch niemand unterwegs.
Auch die Wachen, die vor dem Gemeinschaftshaus gestanden hatten, um ein Auge auf den Besucher zu halten, waren nicht mehr dort. Das verwunderte Gudney. Sie hatte erwartet, dass sie dort mindestens ausharren würden, bis mehr Menschen erwacht waren.
Einem Instinkt folgend zog die Seherin sich in den Schatten eines nahen Hauses zurück und behielt den Eingang im Auge. Im Inneren des Gemeinschaftshauses konnte sie undeutliche Bewegungen ausmachen. Offensichtlich war auch der Besucher schon erwacht und bereitete seine Abreise vor. Nur wenige Momente später trat er nach draußen, und Gudney presste die Hand vor den Mund, um nicht erschrocken aufzuschreien. Es war nicht der junge, schöne Flötenspieler, der am Vorabend ins Dorf gekommen war. Zwar immer noch hochgewachsen und stattlich stand dort ein völlig anderer Mann, Jahre älter als Agnar, mit kahlem Kopf und einem beeindruckenden grauen Bart. Hatte Agnar etwa heimlich nachts weitere Männer ins Dorf geschleust? Wie konnte er das bewerkstelligt haben?
Der Fremde sah sich aufmerksam um, entdeckte Gudney jedoch nicht, die sich noch weiter in ihr Versteck zurückzog, und ging dann schnellen Schrittes fort. Die Seherin verfolgte seinen Weg mit Blicken, bis er, ohne aufgehalten zu werden, durchs Tor eilte und verschwand. Ein paar Momente lang stand sie noch wie angewurzelt, dann rannte sie ins Gemeinschaftshaus und sah sich um. Es war leer. Agnar war nicht mehr da und kurz zweifelte Gudney an sich selbst. Hatte sie sich im dämmrigen Morgenlicht getäuscht, Agnar nicht richtig erkannt? Oder war die Vision nun doch noch gekommen? Die Seherin rang mit sich, ob sie Yrsa von den wirren Träumen und der merkwürdigen Beobachtung erzählen sollte, doch dann entschied sie sich dagegen. Nicht, bevor sie nicht größere Klarheit darüber hatte, was das Gesehene bedeutete. Sie ging zurück in ihre Hütte, um zu meditieren und die Götter um Hilfe und Klarsicht zu bitten.
***
Die Sonne war noch nicht ganz aufgegangen, als schließlich auch Yrsa das Gemeinschaftshaus betrat. Langsam ging sie zu der Stelle, an der man Agnar ein Lager bereitet hatte, doch dieses war leer, scheinbar unberührt.
»Habe ich das nur geträumt?«, fragte sie sich leise und schüttelte den Kopf, kehrte in ihre Hütte zurück.
Sie wollte wieder in ihr Bett gehen, um vielleicht doch noch etwas Schlaf zu finden, da blieb ihr Blick auf ihrem Tisch hängen. Darauf lagen eine Rabenfeder und ein Amulett. Neugierig nahm sie das Schmuckstück in die Hand, betrachtete es, und einem plötzlichen Impuls folgend legte sie es an. Wärme durchfloss sie und ihre Müdigkeit war wie weggeblasen. Und im Ohr hatte sie wieder das Flötenspiel des geheimnisvollen Mannes.
***
Loki stand auf einem der Balkone von Valaskjalf, dem Palast Odins. Seit einer Weile schon hielt er sich dort auf, hatte begehrliche Blicke auf Hliðskialf geworfen, den Thron Odins.
»Irgendwann sitze ich auf ihm«, hatte er dabei gemurmelt.
Loki wusste, Odin war wieder einmal auf einem seiner Streifzüge in Midgard, wie immer in seiner menschlichen Gestalt und auf der Suche nach einer Menschenfrau, die er verführen konnte. Es war Loki ein Rätsel, warum Odin dies immer noch tat.
»Irgendwann ist es dein Verderben, alter Freund«, wisperte er.
»Was ist wessen Verderben?«
Odins Stimme ließ Loki herumwirbeln, und er starrte in das Gesicht des Allvaters, um dessen Mund ein leises Lächeln spielte. Loki deutete eine Verbeugung an.
»Odin! Ich hatte dich noch nicht erwartet. Meist dauern deine, nun, Ausflüge etwas länger.« Loki legte den Kopf schief. »Oder war deine Gespielin zu langweilig?«
Der Göttervater lachte.
»Im Gegenteil, mein lieber Loki, im Gegenteil. Ich habe selten einen Menschen dieser Art getroffen.«
»Wie meinst du das?«, fragte Loki neugierig.
Der Allvater legte ihm eine Hand auf die Schulter.
»Du kannst es dir vielleicht nicht vorstellen, aber es gibt wirklich Menschen, die meinem Werben widerstehen können. Und das nur, weil sie wirklich und wahrhaftig in Liebe zu einem der ihren entbrannt sind. Und diese Liebe, die ist so stark, dagegen sind unsere göttlichen Kräfte nichts.«
»Pah! Menschen und Liebe! Als ob sie so etwas wirklich empfinden können. Jeder Mensch hat seinen Preis. Und jeder Mensch lässt sich verführen, wenn man die richtigen Wege findet. Da verliert Liebe ihre Kraft und Gültigkeit.«
»Ach Loki, so lange kennen wir uns schon, und so lange hoffe ich, dass du eines Tages erkennst, dass wir Götter nicht allmächtig sind. Und lass es dir gesagt sein, gegen die Liebe, und damit meine ich wahre Liebe, tief aus dem Herzen kommend, dagegen sind wir Götter machtlos.«
»Das glaube ich nicht.«
Odin sah ihn lange an.
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