Ich runzelte verständnislos die Stirn. „Willst du sie umbringen?“ Ich zog mein eigenes Messer hervor und griff nach dem Seil, das um die Hände des jüngeren Mädchens gebunden war, schnitt es kurzerhand durch. Ich ignorierte dabei ihre ängstlichen Blicke. Nachdem ich es einfach zu Boden fallen ließ, packte ich das Messer weg und wand mich an Annemarie. „Sag deiner Schwester, dass sie auf meinen Rücken steigen wird! Sie kann es nicht alleine durch das Wasser schaffen!“
Sofort nickte sie und sprach etwas zu der Kleinen, die mich nun noch ängstlicher ansah. Doch Annemarie redete auf sie ein und dann sprach sie wieder laut zu mir: „Ich soll bei ihr bleiben!“
Mann, für so etwas hatten wir keine Zeit. Das Unwetter wurde immer schlimmer, Zeit war das letzte, das wir verlieren sollten. „Du wirst direkt hinter mir bleiben!“, rief ich und sah zu James, der auf uns zukam. „James wird dir helfen, dann sollte es funktionieren!“
„Wir werden das packen!“, sagte James, weil er merkte, wie nervös die zwei Mädchen waren. „Die Strömung ist stark, aber wir sind stärker!“
Ich sah von ihm zu Annemarie. Ihre Haare klebten ihr schon nass in der Stirn und man sah genau die Panik, die sie ergriffen hatte. Sie hatte Furcht um ihre kleine Schwester und hielt sie ständig an der Hand. Ich war mir, um ehrlich zu sein, nicht sicher, ob Annemarie es alleine packen würde, durch die Fluten zu waten. Sie war zu schwer, um sie zu tragen, das wäre ein hohes Risiko, deswegen mussten wir darauf vertrauen, dass sie es alleine schaffte, wenn man sie nur festhielt.
Major Pattons schrie „Los geht‘s!“ und das war unser Startschuss. Die ersten Männer sprangen schon in das Wasser, hielten ihre Waffen nach oben und sofort sah man ihnen an, wie heftig die Fluten wirklich sein mussten. Einer verlor sofort die Kraft und sank komplett ins Wasser, konnte sich aber noch rechtzeitig an einen Ast krallen und sich aufrappeln. Theo lief bei den ersten mit und ich sah, wie er kämpfte und wie schwer es ihm fiel, nicht unterzugehen.
James hätte vorher beten sollen!
Ich zog mir den Rucksack vom Rücken. Die ersten Kameraden kamen nach einer kurzen Zeitspanne am anderen Ufer an, und zogen ein Tau mit sich. Dieses knoteten sie an einen dicken Baumstamm und spannten so das Seil zwischen den zwei Seiten des Flusses. Daran wurden die Rucksäcke an ihren Schulterriemen aufgehängt und mit jedem Schritt ein Stück weitergeschoben. Zentimeter für Zentimeter dem anderen Ufer zu. Da ich Katharina auf dem Rücken mitnehmen musste, war das die einzige Möglichkeit meine Ausrüstung zu transportieren. James oder Javad würden meinen Rucksack rüberschieben. Auch andere Soldaten nutzten diese Möglichkeit, weil sie auf ihren Rücken noch anderes rüberbringen mussten.
„Okay!“, rief ich und stellte mich zu Annemaries Schwester. „Wir gehen los!“ Ich kniete mich zu Boden und nur widerwillig, stieg sie auf meinen Rücken. Doch als ich mich wieder aufstellte, drückte sie sich fest an mich, da sie nun auch die starke Strömung sehen konnte.
Während ich schon die Kälte des Wassers ahnen konnte und mir ausmalte, wie unangenehm das nun werden würde, sah ich nach hinten zu James, der mit Annemarie vor sich zu uns kam.
„Jonathan!“, hielt mich James noch einmal auf, als ich den ersten Schritt ins Wasser setzen wollte. Er sah mir tief in die Augen. „Ich habe gebetet.“
Auch wenn ich nicht gläubig war, war ich erleichtert. James Gebete hatten für mich etwas, das mir Sicherheit gab. Etwas, das mich stärkte, egal wie unrealistisch es auch sein mochte.
Und dann war ich an der Reihe. Die Schuhe hatte ich schon ausgezogen und mit dem Rucksack mitgeschickt. Ich hielt den rechten Fuß ins Wasser. Es war eisig kalt und die Kraft dahinter stärker, als ich vermutet hatte. Ich blieb kurz im Wasser stehen, das mir bis zur Hüfte ging, um mich irgendwie an die Kälte zu gewöhnen und meinen Weg zu planen. Währenddessen hielt ich die Beine des kleinen Mädchens auf meinem Rücken fest umklammert, da auch sie ins Wasser einsank und ängstlich oder vor Kälte schniefte.
Sie umschlang mit ihren Armen fest meinen Hals, presste sich an mich. „Angst“, sagte sie leise, sodass nur ich es hören konnte. Es war das erste englische Wort, das ich von ihr hörte.
„Du musst dich nur festhalten“, sprach ich deswegen zu ihr, machte währenddessen die ersten schweren Schritte ins Flussbett hinein. „Dann musst du keine Angst haben.“
Ich spürte in meinem Nacken, wie sie nickte und stampfte weiter. Natürlich wäre es einfacher gewesen, wenn ich kein Gewicht zu tragen gehabt hätte, doch ich war mir ganz sicher, ich würde sie auf die andere Seite bekommen. Es waren gute zwanzig Meter, die wir zurücklegen mussten, um das feste Ufer zu erreichen, es blieb uns gar nichts anderes übrig, außer es einfach durchzustehen.
„Scheiße, ist das kalt!“, rief Walt, der etwas weiter weg von mir lief. Er war kleiner als ich, deswegen stand er tiefer im Wasser. „Ich schwöre bei Allem was mir heilig ist, das war der letzte Fluss, den ich durchquere!“
„Dann wirst du leider ersaufen, du arme Sau!“, schrie ein anderer, der sich genauso angestrengte wie wir nach vorne kämpfte. Ihm schlug ein Ast gegen die Hüfte und er wütete auf. „Ich hasse es!“
Ich versuchte einen festen Stand zu kriegen und drehte meinen Kopf leicht nach hinten zu meinem menschlichen Gepäck. „Alles okay?“ Sie nickte, weswegen ich mich traute, noch ein bisschen weiter nach hinten zu schauen, um zu sehen, wie James, der hinter mir lief, vorankam.
Annemarie krallte sich an seinen Arm fest und versuchte mit ihm Schritt zu halten. Es fiel ihr sichtbar schwer, aber James würde sie bestimmt gut rüberbringen. Er würde nicht zulassen, dass sie abrutschte. Ich fluchte leise vor mich hin, weil das Wasser drohte meine Beine wegzureißen. Der Regen, der mir währenddessen ins Gesicht peitschte, erleichterte das Laufen nicht sonderlich, aber wir waren jetzt drin, und mussten es schaffen. Wir mussten ans andere Ufer kommen.
Die Minuten vergingen wie Stunden, bis wir endlich auf der anderen Seite ankamen und ich mich an einer Wurzel festhalten konnte, die aus der Uferböschung ragte. Mir wurde von Javad das Mädchen vom Rücken gehoben und ich wollte gerade nach oben steigen, als ich aus den Augenwinkeln sah, wie kämpfte, um das Ufer zu erklimmen.
Theo rutschte ständig auf dem Matsch des Abhanges ab und die anderen waren mit sich selbst beschäftigt.
Deswegen stieg ich schnell nach oben und kniete mich vor ihn hin, reichte ihm die Hand entgegen. Er aber presste verbissen und stur die Lippen aufeinander, und ging auf mein Hilfsangebot überhaupt nicht ein.
„Los, komm schon! Greif zu!“
„Mach dich ab!“, brüllte er zurück und versuchte es erneut aus eigener Kraft, rutschte aber zum wiederholten Mal ab. „Ich brauch deine Hilfe nicht!“
„Was ist nur, verdammt nochmal, los mit dir?“, fragte ich laut und zog meine Hand zurück. „Glaubst du, das hier ist der Richtige Zeitpunkt für so eine Scheiße?“
Theo hörte auf, es zu versuchen und starrte mich böse an, währenddessen klammerte er sich an dem Uferbewuchs fest. „Es ist nie der richtige Zeitpunkt, schon gemerkt?“ Ihm klatschte eine heftige Wasserflut gegen die Seite, worauf er fast den Halt verlor, sich aber gerade so noch festkrallen konnte. „Es ist immer falsch, wütend zu sein, es ist immer oberfalsch, das zu sagen, was ich denke! Und fühle! Etwas, das du schon verlernt hast!“
Ich wollte nach seinem Ärmel greifen, weil ich merkte, wie seine Finger abrutschten, aber er nahm ihn zurück. Deswegen rutschten meine Knie nach hinten und schon lag ich mit dem Bauch im Matsch. „Man, lass den Mist! Was willst du von mir?“
„Das würdest du nicht verstehen, selbst wenn ich es dir sagen würde!“ Wieder versuchte Theo sich hochzuhieven, doch es gelang ihm nicht. Er lehnte sich einfach kraftlos an den Hang und ließ den Kopf hängen. „Geh einfach! Ich komme klar!“
Читать дальше