Dieser Streit verwirrte mich und ich sah von Theo zu John, der Theos Blick auswich und stattdessen angespannt in die Ferne schaute. Irgendetwas schien passiert zu sein, doch ich konnte mir nicht ausmalen, was genau. Es ging mich auch gar nichts an.
„Fickt euch“, keifte Theo und stand wutgeladen auf. Er nahm sich seine Handfeuerwaffe und rempelte John mit seinem Knie an, als er an ihm vorbeiging. „Ich geb‘ mir diesen Mist nicht jeden verdammten Tag.“
Mein Herz pochte wilder, während ich Theo hinterher sah, der sich unter eine kleine Gruppe Männer mischte, die bei Kartenspiel saßen. War denn das? Was hatte diese beiden jungen Männer dazu gebracht, so aufeinander loszugehen?
Nach einer kurzen Stille, in der James Verbände um meine wunden Gelenke wickelte, wendete er sich wieder an John, der immer noch stumm mit angewinkelten Knien im Gras saß und mit zusammengeschobenen Brauen auf einen Fleck starrte. „Du weißt, dass er noch sehr empfindlich ist“, mahnte James ihn. „Provozier es nicht ständig.“
Erneut reagierte John nicht darauf, was mich verwunderte. Ich konnte seine Person nicht einschätzen. Immer wieder stellten ihn andere als jemanden dar, den man irgendwie kontrollieren musste, weil er es selbst nicht schaffte. Dabei kam er mir gleichzeitig aber wie jemand vor, der hilfsbereit und verlässlich war. Er war kein Mann, der viele Gefühle zeigte, das hatte ich schon letzte Nacht bei unserem kurzen Gespräch gemerkt und deshalb fiel es mir schwer, ihn in meinem Kopf als jemanden einzuordnen, dem ich vertrauen konnte, so wie James. Oder sollte ich ihm lieber aus dem Weg gehen?
Ich bemerkte, dass ich ihn wieder zu lange angestarrt hatte, als Katharinas Blick auf mir brannte, die unglücklich meine nun verbunden Gelenke betrachtete. Ich seufzte. „Katharina, schau nicht so. Es ist alles gut.“
Sie jedoch schüttelte den Kopf und nahm widerwillig den Blick von meinen Händen. „Nichts
ist gut.“
„Doch“, versuchte ich es weiter. „Mir geht es gut und das ist das Wichtigste. Du hast da noch Brot liegen. Iss es.“
Natürlich verstand James nicht, was wir sprachen, denn wenn ich mit ihr sprach, dann auf Deutsch. Deswegen fragte er mich unsicher: „Sie macht sich Sorgen um dich, richtig?“
Verzweifelt nickte ich und sah zu Katharina, die ihr Brot aß. „Ja … Sehr. Ich wünschte, ich könnte es ihr ein bisschen leichter machen und ihr die Angst abnehmen.“
James sah zu ihr und rückte ihr näher. „Das will man immer.“
Sanft lächelte ich, auch wenn es wahrscheinlich das traurigste Lächeln war, das je auf meine Lippen gekommen war. James war gut. Seine Hilfe würde ich ihm niemals vergessen.
„Ich, ähm“, sagte ich trotzdem noch und wurde direkt nervöser. „Aber eine Sache gibt es noch.“
James sah mich fragend an und ich fühlte mich unwohl.
„Also ich“, brachte ich unsicher hervor und schluckte. „Es wäre wirklich nett, wenn ich … Also mal irgendwo auf die Toilette könnte.“
James lachte ein bisschen und sogar John hörte ich leise feixen. James stand hilfsbereit auf. „Kein Problem, ich denke, im Wald ist genug Platz. Komm mit.“
Doch ich sah schnell von James zu John, dann wieder zu James. „Aber, ähm, könnte, also – Könnte John mit mir kommen?“
Aus dem Augenwinkel bemerkte ich, wie John den Kopf hob und auch James wirkte überrascht.
„John?“, fragte er nach und blinzelte. „Ich meine, ähm, klar. Oder, John?“
Ich sah total verunsichert zu John, der mich mit gerunzelter Stirn ansah. „Klar …“, lautete jedoch seine Antwort, auch wenn er selbst noch etwas durcheinander schien. „Warum auch immer.“
Ich wusste genau, warum.
John Montgomery
Während Annemarie mir in Richtung des Waldes folgte, überkam mich ein seltsames Gefühl. Ich konnte mir nicht erklären, was nun passieren sollte und außerdem wusste ich nicht einmal, ob überhaupt irgendetwas passieren würde. Mir ist nicht entgangen, wie sie mich angesehen hat, nachdem ich ihr aus Pattons Zelt geholfen habe. Wie auch? Sie tat es extrem auffällig, fast ohne Scham. Es passte nicht zu dem Verhalten, das sie noch letzte Nacht aufwies, wo sie mir zitternd aus dem Weg ging.
„Also“, sagte ich, als wir im Wald standen. Ich sah mich um, ob jemand in der Nähe war. „Du kannst jetzt … Tun, was auch immer du tun musst.“
Ich hörte, wie sie mehrere Schritte hinter mir stehen blieb, sich jedoch nicht mehr bewegte, weswegen ich mich zu ihr umdrehte. Sie stand mit den Händen hinter dem schmalen Rücken verschränkt dort und sah mich mit großen Augen an. Sie wirkte unsicher und ihr rechter Fuß strich langsam durch die alten Blätter.
„Was ist?“, fragte ich sie und schob die Brauen zusammen. „Es ist niemand hier.“
Man konnte sehen, dass sie schluckte, bevor sie mit ihrer sanften Stimme sprach. „Gehst du sicher, dass niemand hier ist?“
Ihre Frage verwirrte mich, ich ging aber nicht darauf ein. „Ich denke schon“, antwortete ich, ließ es aber wie eine Frage klingen. Wieso hatte sie überhaupt gewollt, dass ich hier mit ihr war, wenn sie so verunsichert mit gegenüber war?
Ich war es gewohnt, dass Mädchen oder Frauen, gar Männer Respekt vor mir zeigten, doch bei Annemarie ließ es mich wie einen Unmenschen fühlen. Ihre kleine Schwester und sie machten so einen unschuldigen Eindruck. Allein wie ihre Haltung war. Schmale Schultern, sie schienen ständig angespannt, dünne Waden, die unter ihrem Kleid hervorkamen und die dünnen Arme. Es war ein Wunder, dass sie nicht dicker war. Normalerweise waren Mädchen, die aus guten Häusern wie sie kamen, gut bestückt.
Normalerweise hatten aber auch Mädchen, die ich traf, nicht solch blaue Augen wie Annemarie sie hatte.
„Aber kannst, du ähm, dich wegdrehen?“, holte mich Annemarie aus einer Starre, in der ich ihre blauen Augen betrachtete.
Ich blinzelte und musste mich instinktiv schütteln. Ihr Blick hatte etwas Fesselndes, es war unbeschreiblich. „Sicher“, sagte ich schnell und drehte mich um. „Aber beeil dich, wir sind ziemlich weit von unserem Lager entfernt.“
Ihre Schritte durch das Laub waren leise, aber das Rascheln hörbar. Sie ging nicht weit weg, es schien, als würde sie ein paar Blätter zur Seite fegen. „Ist es sehr gefährlich?“, fragte sie mich nach ein paar Sekunden.
„Was?“ Sie wollte ein Gespräch führen, während sie …?
„Hier. Könnten wir angegriffen werden?“
Ich sah mich mehr in der Gegend um, ging ein zweites Mal sicher, dass niemand hier war, der uns schaden könnte. Einfach aus Gewohnheit. „Unwahrscheinlich. Wenn es ein Trupp wäre, würde ich sie hören und einzelne Soldaten laufen nicht umher.“
„Also ist es nicht gefährlich?“
„Doch, ist es.“
Kurz sprach sie nicht und ich dachte, sie würde verstehen, dass es ziemlich merkwürdig sein konnte, sich mit jemanden zu unterhalten, der gerade uriniert, doch anscheinend täuschte ich mich.
„Kanntest du meinen Vater?“
„Nein“, log ich und verschränkte die Arme. Mir gefiel es nicht private Gespräche mit Menschen zu führen, die ich nicht kannte.
Ganz vage hörte ich sie etwas vor sich hinmurmeln, verstand es aber nicht. Und als das Laub wieder raschelte, war ich mir sicher, dass sie fertig war, drehte mich aber trotzdem nicht um. Zur Sicherheit.
„Ich finde es sehr nett von James, dass er sich so sorgsam um Katharina kümmert“, sagt sie. „Anscheinend ist das ziemlich … selten.“
Normalerweise würde ich daraufhin sagen, dass James schon immer ein Mensch war, der Kinder liebte und sie niemals leiden sehen konnte, doch ich brummte nur ein ungeduldiges „Hm“.
„Er meinte eigentlich, dass wir nicht so weit in den Wald gehen sollten, damit uns nichts passiert.“
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