Ich verdrehte die Augen. „Dann hättest du mit ihm gehen sollen. Ich dachte, dass es ziemlich unangenehm sein kann, wenn man beim Pinkeln beobachtet wird.“
Es herrschte eine längere Schweigepause, in der ich nicht einmal ihre Schritte hörte, deswegen drehte ich meinen Kopf vorsichtig nach hinten. Sie stand wieder einfach dort und verschränkte ihre Arme hinter dem Rücken, schaute zu Boden.
Noch bevor ich sie fragen konnte, was nicht stimmte, sagte sie: „Bist du gut?“
Ich runzelte die Stirn. Was war das für eine Frage?
Anscheinend merkte sie, dass ich sie nicht verstand und fügte schüchtern hinzu: „Also … Ob du einer von den Guten oder von den Bösen bist …“ Sie sah mich an. „Verstehst du?“
Das war solch eine unerwartete Frage, dass ich nicht einmal direkt eine Antwort parat hatte. Ich hatte noch nie darüber nachgedacht oder so eine Frage überhaupt gehört. Aber ihr zerknirschtes Auftreten und wie sie mich ansah, ließen mich nach irgendeiner Antwort wühlen. „Ich weiß es nicht“, war alles, was ich darauf zu sagen hatte. „ … denke ich.“ Und es war die Wahrheit. Ich wusste es tatsächlich nicht.
Sie seufzte schwer und sah wieder zu Boden. „Es tut mir leid … Ich wollte nur wissen, ob ich vielleicht …“
Ich neigte den Kopf. „Was?“
Sie zuckte zaghaft mit einer Schulter. „Ob ich … Angst vor dir haben muss.“
Und ich verstand sofort. Sie wollte mir nicht zu nahetreten oder einfach irgendwelche seltsamen Fragen stellen. Sie wollte einfach nur wissen, ob ich so war wie James und Theo. Oder ob ich eher so war wie Walt, der sie anfassen und Pattons, der sie leiden lassen wollte.
Weil ich überzeugt davon war, schüttelte ich langsam den Kopf. „Nein“, meinte ich. „Du musst keine Angst vor mir haben.“
Sie hob wieder sachte ihren Kopf und sah mich mit ihren hellblauen Augen an. Erleichterung war zu erkennen. „Also bist du … gut?“
Ich zögerte. Was bedeutete schon „gut“? Deswegen griff ich nach der Pistole in meinem Gürtel, worauf Annemarie ruckartig zusammenzuckte, weshalb ich sie locker mit der Hand nach unten hielt. „Sieht das für dich gut aus?“, gab ich ihr eine Frage zurück. „Auch nur ein Stück?“
Während sie überlegte, presste sie ängstlich ihre Lippen aufeinander. Ihr Blick war durchgehend auf meine Waffe gerichtet. Dann hauchte sie: „Würdest du sie gegen meine Schwester richten?“
Fragend legte sich meine Stirn in Falten. „Ob ich, was?“
Sie sah von der Waffe zu mir. „Katharina … Würdest du sie damit umbringen?“
„Nein“, antwortete ich sofort, obwohl ich nicht einmal darüber nachdachte. Ich tötete, aber ich hatte noch immer die Macht darüber was und wen ich töten würde.
„James wird dafür sorgen, dass ihr nichts passiert“, sprach Annemarie wieder und wand ihre Augen auf das Laub unter unseren Füßen. „Richtig?“
„Ich denke, ja.“
Erleichtertes Aufseufzen ließ ihre Schultern das erste Mal etwas hängen.
Ich packte die Waffe wieder weg und betrachtete sie weiter. Es war, als hätte sie noch mehr Fragen auf den Lippen, traute sich nur nicht, sie auszusprechen. Es wunderte mich sowieso, dass ich so mit ihr sprach, wie wir nun mal miteinander sprachen. Aber es wunderte mich auch, dass Annemarie so mit mir redete. Was war passiert, seitdem sie noch letzte Nacht Todesangst vor mir hatte und sich gegen diesen Pfosten presste, um mir ja nicht zu nahe zu kommen?
„Wir sollten wieder zurück gehen“, beendete ich das Gespräch und ging an ihr vorbei. „Wir werden bald wieder weiterlaufen.“
Sie folgte mir mit kleinen Schritten. „Ist schon einmal jemand wegen eines Flusses gestorben?“
Ich wurde langsamer. Sie spielte auf Pattons an und seine Warnung, dass sie dafür büßen müsste, wenn jemand auf dem Fluss starb. Ich bin kein Mensch, der lügt, auch nicht, um Situationen angenehmer zu machen, deswegen antworte ich: „Ja. Viele.“
Daraufhin schwieg sie den ganzen Rückweg.
Es ist bereits eine Stunde vergangen, in der wir in Richtung des Flusses marschierten. Ich sprach nicht viel mit irgendwem, viel mehr dachte ich darüber nach, wie wir am besten das Wasser überqueren konnten. Annemarie und ihre kleine Schwester würden einen Ballast darstellen und wie wir sie sicher und ohne Problem auf die andere Seite bekamen, sollte schwer werden.
Vor allem weil der Wind immer stärker wurde und man erkannte, wie der Himmel ein immer dunkleres grau annahm. Als wäre ein Fluss nicht schon problematisch genug, zog auch noch ein Gewitter auf.
Als ich den ersten Regentropfen auf die Schulter bekam, wurde mir klar, dass es wohl ziemlich schwer werden würde, diesen elendigen Fluss zu überqueren.
„Du musst mit ihm reden“, sprach James nun schon zum dritten Mal auf mich ein und sah dabei zu Theo, der mehrere Meter vor uns lief. „Ich meine es ernst. Ihr müsst das Problem mit Pepper klären, ansonsten gibt es nur Ärger und das können wir nicht gebrauchen.“
„Ich habe versucht mit ihm zu reden, James.“ Ich beobachtete Annemarie, wie sie in den Himmel sah, weil auch sie einen Tropfen abbekam. „Er soll sich einfach nicht so kindisch anstellen. Es liegt nicht in meiner Hand, wen er für Peppers Tod verantwortlich macht.“
„Natürlich nicht.“ James seufzte. „Ich hasse es zwischen den Fronten zu stehen und um ehrlich zu sein, gibt es Wichtigeres, als eure dauernden Auseinandersetzungen. Ich möchte einfach nur nicht, dass wenn irgendetwas passiert …“
„Ja“, brach ich seinen Satz ab, weil ich wusste worauf er hinauswollte. Wenn man Freunde im Krieg hat, sollte man dafür sorgen, dass man in Freundschaft stirbt und nicht in Verachtung, wegen eines dummen Streits. Dinge, die man im Krieg zu schätzen lernte. „Ich denke, ich werde noch einmal mit ihm sprechen.“
„Bitte tu es einfach“, bat mich James, während der Regen anfing stärker zu werden. „Heute sieht es einfach nicht gut aus, es kann so viel passieren.“
Ich knüpfte meine Jacke zu und band meinen Rucksack enger um die Schultern. Ja, es stimmte, was James befürchtete. Es lag die Überquerung des Flusses vor uns, und das konnte sehr ungemütlich werden. Das waren die Momente, die ich am meisten hasste. Diese Vorbereitungsminuten auf das Ungewisse, was kommen würde. Es gab tausende Bilder in meinem Kopf und ebenso viele Szenarien, die ich durchdachte, um immer richtig handeln zu können, falls etwas passierte. Doch nicht immer klappte alles, selbstverständlich, und das machte diese Minuten davor schrecklich. Vor allem seitdem Pepper umgekommen war.
„Wir werden die Transportfahrzeuge hier stehen lassen! Der nachfolgende Trupp kann sie sich nehmen, oder wir kommen am Rückweg wieder hierher!“, schrie Pattons über die lauten Geräusche des Regens, als wir den Fluss schon von weiten sehen konnten. „Nehmt alles Wichtige, so viel wie ihr tragen könnt! Und dann, verlieren wir keine Zeit!“
Die Autos wurden abgestellt, die Männer sortierten ihre Sachen heraus und sekündlich wurde der Wind stärker und der Himmel schwärzer. Als es donnerte, ging ich zu Annemarie, die mit ihrer kleinen Schwester hilflos bei Javad stand, der das Seil um deren Hände festhielt.
„John“, musste er schon lauter zu mir sprechen, damit wir uns überhaupt verstehen konnten. „Ich habe keine Ahnung, wie wir die beiden da rüber bekommen sollen!“
Ich sah zum Fluss, an dem wir bereits standen und beobachtete die heftigen Fluten, die an Steine klatschten und Äste umherschleuderten. Wahrscheinlich hatte das Gewitter auch schon flussaufwärts getobt und den Fluss mit Wassermassen gefüllt. Wie sollten wir das hinbekommen?
„Kapp das Seil!“, sagte ich als erstes und deutete auf Annemaries Handgelenke. „Wir werden sie tragen!“
Javad schüttelte den Kopf und ich erkannte kaum noch sein Gesicht durch den Regen. „Das kann ich nicht! Pattons killt mich!“
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