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Walter hatte eine zermürbende Woche hinter sich. In der Nacht von Montag auf Dienstag war das Sturmtief Ingrid über Oberschwaben gezogen und hatte, bei Temperaturen knapp unter null Grad, noch einmal Schnee gebracht. Nicht viel aber doch genug, um die Wiesen mit einem feinen weißen Flaum zu überziehen. Walter und Balu hatten ihre nächtlichen Runden teils in dichtem Schneetreiben teils im Kampf gegen eiskalte Sturmböen absolviert. Zur Freude aller schien zu Pfarrer Sailers Beerdigung am Freitagmorgen aber wieder die Sonne, auch wenn es noch bitter kalt war. Die kleine Alberskircher Kirche war restlos überfüllt gewesen und mehr als die Hälfte der Menschen hatte die Trauerfeier nur über einen Lautsprecher vor der Kirche verfolgen können. In der ersten Kirchenbankreihe, traditionell den Angehörigen vorbehalten, hatten nur drei Männer, die niemand gekannt hatte, und eine ältere matronenhafte Frau mit verbittertem Gesicht gesessen. Bei der anschließenden Beisetzung war es sogar auf dem Friedhof zu eng geworden, da die Musikkapelle Taldorf mit fast sechzig Mann angetreten war, um Pfarrer Sailer auf seinem letzten Weg musikalisch zu begleiten. Die Stimmung war allgemein gedrückt gewesen, aber positiv. Jeder hatte den alten Pfarrer gemocht und viele dachten in dieser Stunde an schöne Erlebnisse, die sie mit dem Verstorbenen gehabt hatten. In eisiger Stille war jeder einzelne der Trauergemeinde an Pfarrer Sailers Grab getreten und hatte sich verabschiedet. Da von den Angehörigen keiner am Grab aufwartete, entfiel das Kondolieren. Das anschließende Totenmahl hatte in der Landvogtei in Dürnast stattgefunden. Auch hier war keiner der Angehörigen anwesend. Bei „Gschlagenen“ mit Kartoffelsalat war die Stimmung allmählich lockerer geworden und nach einer Weile (und dem ein oder anderen Bier) war an vielen Tischen wieder laut erzählt und gelacht worden.
Walter hatte sich frühzeitig verabschiedet, da er nach seiner Zeitungstour noch keine Zeit für ein Schläfchen gehabt hatte und müde war.
Als er um kurz nach fünf erwachte, dämmerte es bereits. Auch Balu hatte den Tag mehr oder weniger verschlafen und verspürte jetzt ein dringendes Bedürfnis. Walter verstand sein hohes Winseln sofort und öffnete ihm die Tür zum Garten. Auf der Terrasse traf er einen am ganzen Körper zitternden Igel, der gierig das Katzenfutter aus dem Napf fraß.
„Hi Seppi! Echt übel die Temperaturen. Wer hätte gedacht, dass es nochmal so kalt wird?“ Der kleine Igel schaute nicht einmal auf, während er antwortete. „ Ja. Echt übel! Und zu fressen finde ich fast nichts mehr. Habe in der Wiese nach Würmern gebohrt, aber die Biester haben sich wieder nach unten verzogen. Ich hoffe, Kitty nimmt es mir nicht übel, dass ich ihr das ganze Futter wegfresse!“ „Das tut sie bestimmt nicht“, sagte die Tigerkatze, die mit einem eleganten Satz auf die Terrasse sprang. Mit einem freundlichen Nasenstupser begrüßte sie ihren stacheligen Freund. „Ich krieg doch genug von Marie. Heute gab es superleckeren Schweinebraten. Nicht so ein trockener Schweinerücken, sondern ein schön durchwachsenes Halsstück.“ Bei der Erinnerung an ihr Fressen musste sie sich mit der Zunge ums Maul lecken und ihre Barthaare zuckten nach vorne. „Geht ihr denn nachher rüber in die Wirtschaft? Ist schon einiges los da. Ich glaube, einige waren nach der Beerdigung gar nicht mehr zu Hause!“ Balu musste lachen. „Ich denke schon. Walter hat bis vorhin geschlafen und muss erst mal munter werden. Aber ich darf nicht lästern, ich habe auch den ganzen Nachmittag gepennt wie ein Stein.“ „Dann hast du sie nicht gehört?“, mischte sich Seppi schmatzend ein. „Wen denn?“ „Na, die Leute im Haus nebenan! Hab nichts gesehen, weil ich ja in meinem Nest lag, aber gehört hab ich sie. Ein Mann und eine Frau sind ins Haus gegangen und dann auch noch in den Garten. Haben sich darüber unterhalten, was alles gemacht werden muss, und dass sie anfangen, sobald es wärmer wird.“ Balu konnte es nicht fasen: er hatte nichts mitbekommen und die neuen Nachbarn schon wieder verpasst. „Ich könnte mir in den Schwanz beißen. Da hätte ich gerne mal hallo gesagt.“ Kitty rieb beruhigend mit dem Kopf an der Schulter des Wolfsspitz’. „Die wirst du sicher noch früh genug kennen lernen. Jetzt überzeuge Walter zur Goschamarie zu kommen. Vielleicht weiß da ja jemand mehr. Wir sehen uns nachher!“ Und schon war sie mit einem weiteren eleganten Satz von der Terrasse verschwunden. Grübelnd trottete Balu noch ein wenig durch die Gegend und erledigte sein Geschäft. Als er zurückkam, war Seppi verschwunden. Der Katzenfutternapf war leer.
12
Schon als Walter die Treppen zur Goschamarie erreichte, hörte er den Lärm aus der Gaststube. Der ganze Parkplatz war belegt. Einige Autos hatten sich noch irgendwo dazwischen gequetscht und so die Fahrwege verstellt. Gegen später würde es wieder ein paar kleinere Blechschäden geben. Balu beschnupperte einige Fahrzeug und setzte eine kleine Marke, wenn das Fahrzeug nach einem anderen Hund roch. Auch ein Fahrzeug der Ravensburger Polizei war dabei. Polizisten waren bei der Goschamarie durchaus nichts Ungewöhnliches. Oft kamen sie nach Feierabend auf ein Bier vorbei, manchmal kamen sie aber auch schon mittags, parkten ihren Streifenwagen dann aber diskret hinter dem Haus.
Als Walter die Gaststube betrat, prallte er gegen die gewohnte graue Wand aus Zigarettenqualm. Heute war es besonders schlimm, so dass er von den Gästen am Ende der Gaststube nur die Konturen erkennen konnte. Er setzte sich auf seinen Platz am Stammtisch und bestellte per Kopfnicken, während Balu unter der Eckbank verschwand. Max zu seiner Linken unterhielt sich gerade angeregt mit einer blonden Schönheit am Nebentisch, die offensichtlich nicht aus der Gegend stammte. Immer wieder fragte die Blonde „Wie bitte?“, da sie Max’ breites Schwäbisch nicht verstand. Rechts von Walter lag Elmar schlafend auf dem Tisch. Er hatte den linken Arm abgewinkelt und benutzte ihn als Kissen. Er trug noch die Musikantenuniform von der Beerdigung am Vormittag. Marie stellte die zwei Flaschen Bier für Walter auf den Tisch.
„Lossn schlafa. Hots glaub schtreng kett heit. Magsch no was ässa? I het no von dem Schweinebrota iebrig. Isch ja kaum oiner komma heit middag – waret alle beim Totamohl.“
Walter liebte Schweinebraten. „Gern. Aber bitte kein Brot. Ich muss jetzt doch mal ein bisschen aufs Gewicht achten“, sagte er und streichelte dabei mit beiden Händen über seinen Bauch.
Marie hob gespielt entsetzt die Hände vors Gesicht. „Noi Walter, duuu doch it! Sähs scho komma, dass du au no so an Hungerhoka wirsch. Aber isch guat – kriegsch halt blos Schpätzla und koi Brot. Wenn’s dr hilft.“ Kopfschüttelnd verschwand sie in der Rauchwand. Als Walter ihr hinterher blickte, entdeckte er zwei Polizisten an einem Ecktisch. Den einen erkannte Walter als seinen alten Schulfreund Manni. Er hob die Hand zum Gruß und nickte einmal, was soviel bedeutete wie „Hallo, lange nicht mehr gesehen.“ Manni hob leicht die Schultern und ließ den Kopf etwas sinken mit der Bedeutung „Ja. Aber man hat ja nie Zeit!“ Walter lächelte und nickte mehrmals leicht „Wem sagst du das.“ Manni zeigte mit einem Finger auf sein Bier und dann zu Walter und hob die Augenbrauen „Soll ich auf einen Schluck rüber kommen?“ Walter lächelte breit und nickte „Klar!“. Der Polizist stand auf und bahnte sich, mit der Bierflasche in der Hand, einen Weg durchs Lokal. Da er einen beachtlichen Körperumfang hatte, streifte er immer wieder andere Gäste und musste sich entschuldigen. Er musste auch am verrückten Dieterle vorbei, der gerade zwei Fremde in eines seiner wirren Gespräche verwickelt hatte. Niemand wusste Genaueres über „s’Dieterle“. Irgendwann war er aufgetaucht und bewohnte seitdem eine alte Hütte am Taldorfer Ortsrand. Alle waren sich einig, dass er nicht richtig tickte (er behauptete im Taldorfer Wald hätten sich Außerirdische versteckt), da er aber niemandem etwas tat, störte sich auch niemand an ihm. Als Manni ihn mit seinem Bauch schubste, schaute er denn auch nur kurz auf und lachte übertrieben.
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