Ines Langelüddecke
Alter Adel – Neues Land?
Die Erben der Gutsbesitzer
und ihre umstrittene Rückkehr
ins postsozialistische
Brandenburg
Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
des Förderungs- und Beihilfefonds Wissenschaft der VG Wort
Für meine Kinder Salka und Frida
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© Wallstein Verlag, Göttingen 2020
www.wallstein-verlag.de
Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf
Umschlagfotos: Oliver Mark, Berlin
ISBN (Print) 978-3-8353-3635-3
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4458-7
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4459-4
Einleitung. Probleme der Wiederbegegnung von Adligen und Dorfbevölkerung nach 1989/90
1. Geschichte als Rahmen. Die Zäsuren des 20. Jahrhunderts und ihre Auswirkungen auf das Gutsdorf
1.1. Die deutsche Einheit 1990: Neuordnung von Grund und Boden
1.2. Das Ende des Zweiten Weltkriegs 1945: Der Untergang der alten Welt von Adel und Dorf
1.3. Getrennte Wege 1945-1990: Adelsfamilien in der Bundesrepublik und Dorfbevölkerung in der DDR
1.4. Drei ehemalige Gutsdörfer nach 1990: Siebeneichen, Bandenow und Kuritz
2. Gutshäuser und Schlösser. Widerstände gegen die Neugestaltung des ehemaligen Herrschaftszentrums
2.1. Dorf ohne Schloss: Das Ringen um die leere Mitte von Siebeneichen
2.2. Ein Schloss, das nicht sein soll: Distanz und Diskretion im Sprechen über die Gutshäuser von Bandenow
2.3. Schloss ohne Gutsherr: Ein öffentlicher Ort in Kuritz
2.4. Fazit
3. Die Kirche im Dorf. Zwischen Gut, Gemeinde und Gott
3.1. Patronat im Wandel: Die Kirchenrestauration in Siebeneichen als Aushandlungsprozess
3.2. Adliges Engagement und dörfliches Desinteresse: Die Kirche von Bandenow
3.3. Rivalen vor Gott und vor der Gemeinde: Pastoraler Geltungsanspruch und adliger Rückzug in Kuritz
3.4. Fazit
4. Adlige Familienfriedhöfe. Bedrängte Bastionen der Tradition
4.1. Urnen auf Reisen: Grabpflege in Siebeneichen zwischen symbolischer Präsenz und materieller Aneignung
4.2. Traditionswahrung über Systemgrenzen hinweg: Die Erhaltung der Adelsgrabstätte in Bandenow vor und nach 1989/90
4.3. Zwischen den Gräbern Pferde, Schweine und Gänse: Der Konflikt um die Nutzung des Adelsfriedhofs in Kuritz
4.4. Fazit
5. Bauernland in Junkerhand? Felder und Wälder als Konfliktquelle zwischen Adelsfamilien und Dorfbevölkerung
5.1. Belasteter Boden, geschichtete Erinnerung: Strategien adliger Vertrauensbildung in Siebeneichen
5.2. Adel, der arbeitet: Unternehmertum in Bandenow zwischen symbolischer Inszenierung und wirtschaftlicher Nachhaltigkeit
5.3. Streitbarer Adel: Der Gutsherr mit der Peitsche und die Last der Vergangenheit in Kuritz
5.4. Fazit
6. Der Park, ein Privileg. Adlige Grenzziehung als Ausdruck der neuen Raumordnung zwischen Gut und Dorf
6.1. »Es wäre auch ganz schön, mal einen Gartenzaun zu haben«: Adliges Understatement in der räumlichen Expansion in Siebeneichen
6.2. »Nun hat er es wieder«: Dörfliche Kritik an der Parkgestaltung in Bandenow
6.3. »Und grade rüber vom Schloss war ein verwilderter Park«: Vom unsentimentalen Verschwinden eines Repräsentationsraumes in Kuritz
6.4. Fazit
7. Und was ist mit dem Ungesagten? Das Schweigen des Dorfes als Ausdruck asymmetrischer Machtverhältnisse
Schluss: Der Transformationsprozess in historischer Tiefe
Dank
Kurzbiographien der Interviewten
Literatur- und Quellenverzeichnis
Anmerkungen
Einleitung
Probleme der Wiederbegegnung von Adligen und Dorfbevölkerung nach 1989/90
Ein Gutsdorf zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Als der junge Adlige Jasper von Sierstedt im September 1990 aus Bayern nach Brandenburg übersiedelte, begann er bald ein neues Haus für seine Familie zu bauen. Das Schloss gab es nicht mehr.[1] Parallel dazu sanierte der damals 29-jährige Enkel des letzten Gutsbesitzers zusammen mit der Pfarrerin und den Kirchenmitgliedern die verfallene Kirche. Sogar die Patronatsloge wurde so rekonstruiert, wie sie ausgesehen hatte, als sein Großvater noch Kirchenpatron von Siebeneichen war. Heute bleibt die Loge über dem Kirchenschiff leer, denn im Unterschied zu der Zeit vor 1945 sitzt die Adelsfamilie in den Kirchenbänken, wie alle anderen Gläubigen auch. Die Kirche von Siebeneichen hat sich im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs war sie als Patronatskirche im Adelsbesitz. Während der Jahre der DDR verfiel sie immer mehr, bis sie nach 1990 auf Initiative der Adelsfamilie rekonstruiert und wiederaufgebaut wurde. Heute vermittelt die Kirche den Eindruck, als hätte es im Dorf nie eine Zeit ohne die lokale Adelsfamilie gegeben.
Jasper von Sierstedt, der 1961 in der Bundesrepublik geboren wurde und das Projekt der Kirchenrenovierung maßgeblich vorantrieb, kannte Siebeneichen bis 1990 nur aus den mündlichen und schriftlichen Erzählungen, die in seiner Familie weitergegeben wurden. Zu dieser Familienüberlieferung gehört auch ein kleines Heft mit Tagebuchaufzeichnungen seines Großvaters aus dem Jahre 1945. In kurzen Einträgen hielt dieser den Alltag und den Untergang der alten Welt des Adels fest. Am 15. April 1945 notierte der damals 51-jährige Botho von Sierstedt:
»Unser Dasein hier ist wohl nur noch nach Stunden zu zählen. Früh trommelt der Russe im nördlichen Abschnitt. Danach streut er mit großen Haubitzen. Die ersten Dinger pfeifen uns über den Kopf in den Acker hinter der Koppel. Dann eins auf die Koppel hinter dem Ersatzteilschuppen und verletzt dabei unseren letzten Treckerfahrer. Das kann Einschießen zur großen Kanonade bedeuten, die sehr bald einsetzen wird und Siebeneichen zerschlagen wird. Man sitzt herum, hat nichts zu tun und wird geplagt von den Gedanken, was werden soll. […] Noch schlägt die Kirchturmuhr getreulich ihre Stunden.«[2]
Einen Tag später, am 16. April, folgte dann wie erwartet der Angriff der sowjetischen Truppen, der das östlich von Berlin gelegene Dorf in Trümmer legte. Botho von Sierstedt, der kurz vor der sowjetischen Großoffensive noch seine verbliebenen Angestellten mit der Frühjahrsbestellung auf seinen Feldern beauftragt hatte, musste das Dorf und sein Gut für immer verlassen. Seine Frau und die sieben Kinder waren schon vor ihm aus Siebeneichen geflohen.
Drei Jahre später berichtete ihm seine ehemalige Angestellte Helene Kaiser in einem Brief vom 29. Januar 1948, was aus dieser letzten Aussaat auf seinen Äckern geworden war. Anfang des Jahres 1948, als ein sehr kalter Winter mit Nahrungsmittelknappheit herrschte, erinnerte sie sich an die Fürsorge des Gutsherrn für seine Angestellten. Sie schrieb:
»Als wir im Herbst 45 nichts zu essen hatten und die Not so furchtbar groß war, weil alles Land nicht bestellt war, da war es eine Fügung, dass hinter dem großen Schuppen der große Schlag mit Pferdebohnen stand, […] und der Schlag mit den Mohrrüben, der allerdings von den Russen bewacht wurde. Aber beim Auspflügen durften Frauen und Kinder abdrehen helfen und dafür bekamen wir dann welche. Mindestens zwei Wochen lang dauerte die Ernte. […] Schauen Sie, verehrter Herr von Sierstedt, trotzdem Sie nicht mehr da waren, ist durch die Fürsorge der Landbestellung vielen Menschen geholfen worden. Und dafür müsste der Herrgott Ihnen und Ihrer Familie auch wieder helfen.«[3]
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