„Nein!“, rief Walter laut und hatte das Gefühl ganz Taldorf müsste jetzt wach sein. „Nein“, wiederholte er leiser. „Wir werden sicher nicht wie ein altes Ehepaar Klamotten kaufen gehen. Aber ich werde mir bei Ihnen rechtzeitig Rat holen, versprochen. Schönen Tag noch!“ Walter machte auf dem Absatz kehrt und ließ Eugen verblüfft im Dunkeln stehen.
Walter genoss gerade seinen Feierabend-Schnaps auf der Treppe der Goschamarie, als Kitty an der Hausecke auftauchte.
„Hey Balu! Gibt’s schon was Neues von Pfarrer Sailer?“ „Nein, habe noch nichts gehört. Aber ich mache mir Sorgen um Eglon. Wo steckt der bloß? Ich konnte ihn nirgends wittern.“ Kitty bemerkte, dass Balu ernsthaft besorgt war und rieb sich freundlich an seiner Seite. „Balu, mach dir nicht zu viele Sorgen. Du kennst doch Eglon! Der liegt irgendwo auf einem warmen Sofa und verdaut das letzte Essen. Wäre das nicht so, würdest du ihn überall beim Betteln oder sogar Stehlen sehen!“ Balu wusste, dass Kitty damit wahrscheinlich Recht hatte, wollte aber auf Nummer sicher gehen. „Hast du nachher schon was vor? Ich denke, ich kann mich aus dem Haus schleichen, wenn Walter sich hinlegt. In der Küche schließt er tagsüber nie ab. Dann komme ich raus in den Garten und wir können nach Alberskirch laufen und nochmal nach Eglon suchen, okay?“ Kitty konnte dem Wolfsspitz einfach nichts abschlagen. „Natürlich komme ich mit - schon weil ich eine viel bessere Nase habe als du.“ „Nein, hast du nicht“, bellte Balu gespielt empört. „In einer Stunde bin ich wieder hier, dann sehen wir, wer den besseren Riecher hat.“ Er zwinkerte Kitty kurz zu und rannte hinter Walter her, der schon fast zu Hause war.
8
Kaum war Walter im Schlafzimmer verschwunden, schlich Balu zur Küchentür. Sie war wie immer unverschlossen. Balu setzte sich direkt unter die Türklinke und machte „Männchen“, wie es die Menschen nannten. Dadurch hatte er beide Vorderpfoten frei, stützte sich mit der rechten am Türrahmen ab, um das Gleichgewicht zu halten, und legte die linke Pfote auf den Türdrücker (ja – Balu ist Linkspfotler – in der Familie der Wolfspitze ein häufiges Phänomen). Beim ersten Drückversuch rutschte er ab, beim zweiten gelang es ihm und er verlagerte sein Gewicht leicht nach hinten, um die Tür aufzuziehen. Dabei hatte er sorgfältig darauf geachtet, dass keine seiner Krallen Tür oder Wand berührten und dadurch verräterische Kratzspuren hinterließen. So gern er Walter auch mochte – dieser Trick sollte sein Geheimnis bleiben.
„ Nicht schlecht für einen Canis Lupus “, zog ihn Kitty auf, die bereits vor der Tür gewartet hatte. Sie saß aufrecht mit eng angelegtem Schwanz neben Seppi, der gerade schmatzend das Katzenfutter verschlang. „ Das ist doch unfair “, schimpfte Balu. „ Ich kenne zig Häuser mit einer Katzenklappe, damit ihr rein und raus könnt wie ihr wollt, aber ich kenne nicht ein einziges Haus mit Hundeklappe! Warum eigentlich? “ „ Weil die Menschen wissen, dass sie uns Katzen eh nicht kontrollieren können. Wir kommen und gehen wann und wie wir wollen und wenn man uns darin hindert, machen wir Ärger. Zerfetzen Tapeten und Vorhänge oder verrichten unser Geschäft im Topf einer Yukka-Palme und das wollen sie eben nicht.“ „ Hätte ich so ein schönes warmes zu Hause und genügend zu Fressen, würde ich gar nicht mehr raus gehen. Höchstens mal zur Paarungszeit!“ Für Seppi war eben alles einfacher. Balu und Kitty liefen querfeldein den kürzesten Weg nach Alberskirch. Hinter der Goschamarie den Hügel hinauf, durch den Taldorfer Weinberg, an einem Bauernhof und dem Dürnaster Spielplatz vorbei, durch zwei Obstplantagen und schon standen sie vor Pfarrer Sailers Haus. Soweit Balu sehen konnte, hatte sich seit heute Nacht nichts verändert. Wieder sprang er auf den Holzstapel, um in die Küche sehen zu können. Nirgends eine Spur von Eglon. Doch irgendetwas war anders. Balu wusste erst nicht recht was es war, doch dann viel ihm der freie Platz auf dem Küchentisch auf. Die alten Bücher waren verschwunden. Auch die Kaffeetasse und die beiden Teller in der Spüle waren weg. „ Jemand hat aufgeräumt“, sagte Balu und erklärte Kitty, wie es noch heute Nacht ausgesehen hatte. Plötzlich hatte die Katze eine Idee. „ Natürlich! Ich weiß wo Eglon steckt: in Herrgottsfeld! Balu, wer würde denn bei dem toten Pfarrer aufräumen? Natürlich seine Haushälterin – die Annemarie! Sie hat einen Schlüssel und wohnt drüben in Herrgottsfeld. Die hat sicher mal vorbei geschaut und den armen Eglon mitgenommen, damit er nicht verhungert.“ „Oder schlank wird“ , konnte sich Balu nicht verkneifen. „ Ach du “, winkte Kitty mit unbekrallter Pfote ab. „ Lass uns rüber laufen. Wenn wir uns beeilen, schaffen wir das in zehn Minuten!“ Noch bevor Balu einwenden konnte, dass es doch eigentlich schon recht spät sei und Walter wohl demnächst aufwachen und merken würde, dass er nicht da war, war Kitty schon von dem Holzstapel heruntergesprungen und galoppierte in Richtung Herrgottsfeld. Balu bellte einmal laut und setzte ihr nach. Weiber!
9
Es passiert heutzutage recht häufig, dass sich ein Ehepaar bei der Hochzeit nicht auf einen Familiennamen einigen kann und deshalb einen Doppelnamen wählt. Das ist in vielen Fällen sinnvoll und vermeidet Streitigkeiten, entbehrt manchmal aber auch jeglicher Vernunft.
Dr. Michael Vorn-Lang hätte damals im Namensstreit klein beigeben sollen und einfach den Namen seiner Frau „Vorn“ annehmen sollen, doch jetzt war es zu spät. Als leitender Pathologe hatte er zwar meist mit Toten zu tun, aber hin und wieder eben auch mit grinsenden Lebenden.
„Anne – kommen Sie mal rüber und helfen mir mit diesem Kunden?“ Dr. Vorn-Lang nannte die Leichen gerne „Kunden“, um der Pathologie eben doch ein wenig Leben einzuhauchen. Anne, 23 Jahre alt, gelernte Krankenschwester, war ein überaus fleißiges und fröhliches Mädchen.
„Soll ich hier hinten lang gehen?“ fragte sie in freudiger Erwartung der Antwort.
„Nein … (tiefer Seufzer) … kommen sie ruhig vorn lang“, sagte Dr. Vorn-Lang resigniert, während sich Anne brüllend auf die Schenkel klopfte. Er machte sich erst gar nicht die Mühe darauf einzugehen und öffnete auf seinem Tablet PC die Akte.
„Tiberius Sailer. Weiß, männlich, 73 Jahre. Tot in einer Kirche aufgefunden worden. Pfarrer im Ruhestand. Hatte schon mal einen schweren Herzinfarkt. Keine äußere Gewalteinwirkung zu erkennen … hmmm … vermute mal, wieder ein Herzinfarkt. Was haben wir aus dem Labor?“
Die fröhliche Anne hatte ebenfalls einen Tablet PC in der Hand (wenn auch ein älteres Modell) und rief die Testergebnisse auf.
„Soweit alles im normalen Bereich. Es scheint, als hätte der Herr Pfarrer brav seine Medikamente genommen. Alle Werte passen. Nur … ha … da ist den Jungs im Labor ja was Blödes passiert … da ist denen wohl das Komma um eine Stelle verrutscht. Sehen sie hier – bei der Blutanalyse der Koffeingehalt?“ Sie hielt Dr. Vorn-Lang ihr Tablet direkt unter die Nase, so dass ihm der rot markierte Wert quasi ins Gesicht sprang.
„Oh“, war seine spontane Reaktion. „Müssen die nochmal checken. Rufen Sie diesen Remtsma an, der hier unterschrieben hat und sagen Sie wir brauchen den Wert nochmal … sofort!“
Die fröhliche Anne trippelte an der Pritsche mit dem toten Pfarrer vorbei (natürlich vorn lang), um zu telefonieren. Dr. Vorn-Lang machte derweil mit der Autopsie weiter.
Nur wenige Minuten später klingelte sein Telefon.
„Vorn-Lang?“
„Angeber!“, kam die Antwort aus dem Hörer. Der Doktor blickte resigniert zur Decke, bis sich die Stimme am anderen Ende der Leitung beruhigt hatte.
„Entschuldigung! Entschuldigung! Entschuldigung! Aber das war einfach zu verlockend!“ Dr. Vorn-Lang verzichtete auch jetzt auf einen Kommentar.
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