„Also mach ’sgut, Ruth! Ruf mich an.“ reißt Freddis Stimme mich aus meinen Gedanken. Ich ergreife die zum Abschied dargebotene Hand, dabei nicke ich wortlos auf seinen mahnenden Blick hin. Dieter klopft mir wieder auf die Schulter und anschließend muss ich mich Manuels Abschiedszeremonie ergeben. Nachdenklich vor mich hin starrend stehe ich an der Theke, nachdem die drei gegangen sind. Rein mechanisch begrüße ich ankommende und verabschiede den Laden verlassende Gäste.
Wie war das? Ich sehe also gestresst aus! Kein Wunder! Erst zwei Tage sind seit der gewaltsamen Auseinandersetzung vergangen. Die letzten sieben Wochen waren der chaotische Höhepunkt einer konfusen, verfehlten Beziehung, von der nur meine süße, kleine vierjährige Tochter übrig geblieben ist. Und ein bitterer Nachgeschmack von Hass und Verachtung für deren Vater.
„Chefina , Telefon!“ ruft mir Monika aus der offenen Kassentüre zu. Mit gestraffter Haltung gehe ich die paar Schritte in die Kasse. „Ja, bitte?“ frage ich in den Hörer.
„Hallo Ruth! Wie geht ’s?“ höre ich Holgers Stimme. „Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass ich heute keinen Nachtdienst machen kann. Mir ist etwas dazwischen gekommen. Und eine interessante Neuigkeit habe ich für Dich. Ich habe erfahren, dass der Reutlinger heute mit Ede verabredet ist. Ich hab das so wasläuten hören, dass er sich für das ‚Luisa’ und Recklinghausen interessiert. Wenn ich richtig informiert bin, laufen heute die Verkaufs-Verhandlungen. Vielleicht möchtest Du ja mit ihm sprechen, dann kannst Du ihn heute im ‚Luisa’ erreichen. Das die Information vertraulich ist, brauche ich Dir wohl nicht extra zu sagen? Ist nur ein kleiner, freundschaftlicher Tipp für Dich.“
‚Was willst Du mir da unterjubeln? Welchen Zweck verfolgst Du mit diesem Hinweis? Ach so, Du hättest es wohl gerne, dass Dein Freund ‚Wiener’ wieder hierhin kommt? Ja, das glaub ich Dir! Aber ich möchte das aus mehreren Gründen nicht so gerne. Die Story hab ich einmal hinter mir, auf ein zweites Mal kann ich verzichten’. Denke ich. Obwohl mir der Hinweis auf den Besuchs-Grund zu denken gibt, sage ich betont gleichgültig: „Das weiß ich alles schon. Freddi war vorhin hier. Vor ein paar Minuten ist er zu Ede gefahren. Trotzdem vielen Dank für Deinen Tipp.“
Ärgerlich, dass er mir nichts Neues erzählen konnte, antwortet er: „Gut, wenn Du schon alles weißt, dann hol mir mal den Micki an den Apparat. Ich muss ihm sagen, dass ich ihn nicht ablösen kann. Du musst heute mit Micki vorlieb nehmen. Ich komme in den nächsten Tagen um Dich zu beschützen. Dir ist das doch egal, oder?“ fragt er in lauerndem Ton. Was soll die dumme Frage? Denke ich. Schon als wir über die nächtliche Bewachung gesprochen haben, hab ich auf diese Frage klar und deutlich gesagt, dass ich keinen Mann für die Nacht, sondern nur Schutz brauche. Welche Antwort Du gerne hättest, kann ich mir denken. Darauf kannst Du lange warten. Aber vergeblich!
Betont gleichgültig erwidere ich: „Ist mir gleich wie Ihr Euch das einteilt. Das ist Eure Sache. Dann bis demnächst!“
Ich lege den Hörer neben den Apparat, gehe ein paar Schritte in den Spiel-Saal. Als Micki mir entgegensieht, winke ich ihm zu: „Micki, Telefon!“ Auf seinen fragenden Blick sage ich „Holger!“
Dann wende ich mich zur Theke und bestelle bei der Bedienung einen Kaffee. Die Wochenend-Aushilfskraft stellt mir ein Glas auf die Theke. Die wird das auch nie lernen, denke ich. Wieder hat sie mir ein ‚Milchsüppchen’ anstatt Kaffee gemacht. Bestimmt zehn Mal habe ich ihr das schon gesagt, aber ich will mich heute nicht ärgern. Es geht eben nichts über unsere Mary. Aber die hat leider heute frei. Mit dem Glas in der Hand setze ich mich vor einen der Spiel-Automaten gegenüber der Theke.
Micki kommt mit missgestimmtem Gesichtsausdruck aus der Kasse. Spontan frage ich: „Was für eine Laus ist Dir denn über die Leber gelaufen? Hast Du keinen Bock heute Nacht mein Kindermädchen zu spielen? Hattest Du was Besseres vor? Hat Holger Dir das kaputtgemacht?“ Ich scheine den Nagel auf den Kopf getroffen zu haben.
Er brummt: „Eigentlich schon. Sei nicht böse, aber ich hatte heute wirklich noch was vor. Schöne Scheiße! Ich kann die Kleine nicht einmal anrufen und absagen. Immer das gleiche, ich bin der Dumme. Aber ich werde mal Ingo fragen, vielleicht hat er heute Zeit. Dann kann er meinen Dienst übernehmen. Du hast doch nichts dagegen? Es ist ja nicht persönlich.“ Erstaunt frage ich: „Wieso sollte ich etwas dagegen haben? Mir ist wurscht, wer von Euch bei mir Wach hält. Hauptsache ich kann in Ruhe schlafen. Die letzten sieben Wochen habe ich wenig genug geschlafen. Ehrlich gesagt, hätte ich ohne Schutz im Moment noch nicht den Nerv einzuschlafen. Tut mir leid, wenn ich Dich in Turbulenzen bringe.“ Er hebt abwehrend die Hände: „Nein, nein! Es ist doch nicht Deine Schuld. Wir haben den Job übernommen und sorgen schon für Deine Sicherheit. Holger bringt mal wieder alles durcheinander. Irgendwie wird es schon gehen. Mach Dir keine Gedanken. Wenn Ingo auch nicht kann, verzichte ich eben auf die Verabredung. Die Kleine läuft mir nicht weg!“ Damit dreht er sich um und geht zurück zu seinem Kumpel. Wir hatten die Vereinbarung getroffen, dass hier im Geschäft immer zwei und nachts bei mir zu Hause einer von ihnen Wache hält. Mir war nicht ganz klar, ob die Jungens mich damit nur beruhigen wollten oder ob sie einen Gegenschlag befürchteten. Wie dem auch sei, ich fühlte mich dabei sicherer. Es beruhigt meine strapazierten Nerven, dass ich fast besser als die Kronjuwelen bewacht werde. Rund um die Uhr!
Ich will mir eine Zigarette anzünden, doch das Päckchen ist mal wieder leer. Mein Gott, war das nicht schon das zweite heute? Im Moment bin ich ein ‚dampfendes Nervenbündel’!
Sechs Kilo habe ich in den letzten Wochen abgenommen. Da ich von Haus aus ein kleines, schmales Hemd bin, zeigt mir momentan jeder Blick in den Spiegel nur noch ein Knochengerüst! So kann es mit mir wirklich nicht weitergehen. Nur rauchen wie ein Fabrik-Schornstein und wenig essen. Dabei fällt mir auf, dass ich heute noch gar nichts gegessen habe. „Ilse, können Sie mir bitte ein Brot machen?“ frage ich die Bedienung. „Gerne, was möchten Sie denn haben? Wurst oder Käse?“ antwortet die Angesprochene.
„Beides!“ sage ich hungrig. „Und noch einen Kaffee dazu. Aber bitte nicht so viel Milch, das mag ich nicht so gerne!“
Sie nickt schuldbewusst. Also hatte sie es vorhin selbst bemerkt. Es war also keine Boshaftigkeit sondern Nachlässigkeit von ihr. Aus dem Saal kommt meine Freundin Nina, welche als Croupier bei mir arbeitet auf mich zu. Lässt sich in den Sessel neben mir fallen und plappert gleich los: „Was wollte den der Reutlinger von Dir? Will er wieder hier einsteigen? Das wirst Du doch hoffentlich nicht machen? Wenn der ‚Wiener’ wieder als Geschäftsführer hierhin kommt, dann hau ich ab. Auf den habe ich absolut keinen Bock mehr. Ich dachte, Du wärest froh, dass der nicht mehr hier ist? Der hat doch mehr kaputt als gut gemacht! Ist doch wahr! Das haben alle Kollegen gesagt. Diesen Fehler wirst Du doch nicht noch einmal machen?“ Ilse bringt das gewünschte Butterbrot: „Ist es recht so, Chefin? Wie ist der Kaffee? Gut? Oder noch immer zu viel Milch?“ Freundlich antworte ich: „Danke, alles bestens.“
Ich verzichte darauf, ihr zu sagen, dass der große Teller mit belegten Broten viel zu viel für mich ist. Sie hatte es gut gemeint. Dafür war aber der Kaffee in Ordnung. Erst schlürfe ich etwas von dem heißen Getränk, dann wende ich mich an Nina: „Du musst nicht denken, sondern nachdenken! Ich weiß sicher selbst, was ich tue. Das jedoch bestimmt nicht. Darüber brauchst Du Dir keine Sorgen zu machen. Außerdem war Freddi nur auf der Durchfahrt. Er hatte einen Termin mit Ede im Hotel Luisa. Aus geschäftlichen Gründen war er nicht hier.“
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