„Ich werde wie vorgesehen zunächst die Ordensversammlung besuchen, meine Pläne danach aber ändern“, erklärte Melbart. „Diesen Kristall, den ich dir gab, Thorgren, darfst du unter keinen Umständen in andere Hände als die Angulfins gelangen lassen. Lieber zerstöre ihn mit den Worten, die ich dich lehrte. Ich verlasse dich nur für kurze Zeit. Halte dich nicht zu lange auf. Die Aufgabe, die dich erwartet, mag dringender sein als wir ahnen. Noch eins: Dieses Treffen muss vorerst geheim bleiben. Nur Angulfin weiß davon. Erwähne Zethimer gegenüber meinen Namen noch nicht.“
„Kennt er dich nicht?“, wunderte sich Thorgren.
„Doch, aber ich will vermeiden, dass er argwöhnt, ich hätte etwas mit der Botschaft von König Harismund zu tun. Ich werde ihn rechtzeitig über alles Wichtige, was das Achôn-Tharén betrifft, unterrichten.“
„Aber das Achôn-Tharén? Kann ich ...?“
„Das solltest du sogar erwähnen. Er kennt die Legenden ebenfalls. Ich schätze, das wird einen gewissen Einfluss auf seine Entscheidungen haben.“
„Er wird mich fragen, von wem ich davon erfahren habe.“
„Hm, da hast du Recht. Dann sag ihm, derjenige wäre auf dem Weg zu ihm und würde sich selbst zu erkennen geben. Und nun lebe wohl.“
Melbart klopfte auf einem Stein die ausgeglühte Asche aus der Pfeife und verstaute sie in seiner Kutte. Dann stand er auf, warf sich die Kapuze wieder über den Kopf und verschwand durch den Spalt zur Vorhöhle.
Nach einer kurzen Zeit des Dösens, richtig schlafen konnte Thorgren nicht, sammelte er seine Sachen zusammen und sattelte Mondblesse. Trotz der kurzen Ruhe war er wieder hellwach, und auch sein Pferd machte den Eindruck, als hätten die Anstrengungen der letzten beiden Tage keine Spuren bei ihm hinterlassen. Thorgrens Kleidung war durch die Wärme des Feuers ein wenig getrocknet. Vorsichtig führte er Mondblesse ins Freie. Das Wetter hatte sich inzwischen beruhigt. Der Regen hatte fast aufgehört, und nur noch vereinzelte Blitze durchzuckten die Finsternis. Aber das war am vergangenen Tag auch von Zeit zu Zeit der Fall gewesen und hieß gar nichts.
Thorgren hätte es vorgezogen, die berüchtigte Trollschlucht, die nun vor ihm lag, am Tage zu durchreiten. Im Sonnenlicht, selbst wenn der Himmel wolkenverhangen war, war es allemal sicherer, weil sich dann die Trolle nicht aus ihren Behausungen wagten. Aber sein Auftrag im Namen König Harismunds eilte, und der nächste im Namen König Nigalls erschien Thorgren nicht weniger drängend. Deshalb musste er das Wagnis eingehen, bei Nacht die Trollschlucht zu passieren.
Seufzend schwang er sich auf den Sattel und begann den nächsten Abschnitt seiner Reise zu König Zethimer ins Land-Der-Vielen-Feuer, wie Lysidien auch genannt wurde.
In der Zeit von Thorgren herrschte im Grünland, wie das Land Namur auch genannt wurde, ein König namens Wechis. Er hatte seinen Palast in der größeren der beiden Städte des Grünlandes, in Weißanger. Diese Stadt war für namurische Verhältnisse sehr großzügig angelegt und zählte die stattliche Anzahl von siebenunddreißigtausend Einwohnern. Rings um den Herrscherpalast, der neben den königlichen Gebäuden auch die Unterkünfte für die Soldaten sowie die Pferdeställe und Werkstätten beherbergte und von einer niedrigen Mauer umgeben war, erstreckten sich die Häuser der übrigen Einwohner. Breite Straßen durchzogen die Wohnviertel, gesäumt von zahlreichen Bäumen. Weißanger war vor Erzmühlen der wichtigste Handelsplatz des Landes und deshalb stets von einem regen Treiben erfüllt. Besucher und Händler aus aller Herren Länder kamen hier zusammen.
König Wechis war ein strenger Herrscher, aber auch für seine gerechten Ratschlüsse und seine Weitsicht bekannt. Seit er vor vielen Jahren von den Fürsten des Landes zum König gewählt wurde, hatte er dem Grünland durch eine umsichtige Regierung Frieden und Wohlstand gebracht, und der Gedanke an unruhige Zeiten lag vielen seiner Einwohner fern. Nur wenige hatten davon gehört, dass in letzter Zeit wieder häufiger Bestien an den östlichen Grenzen beobachtet worden waren.
Seit Jahrhunderten wurde dort eine starke Landwehr unterhalten, da immer noch lebhaft in Erinnerung war, wie furchtbar diese Kreaturen im Kryonischen Krieg gegen die anderen Völker gewütet hatten. Wenn seit damals auch nur noch selten Überfälle aus dem Kepirgebirge erfolgt waren, so hatte es doch kein König des Grünlandes versäumt, die nötige Wachsamkeit walten zu lassen, denn auch diese wenigen Überfälle stellten eine ständige Bedrohung dar.
Die jüngste Entwicklung beunruhigte den König jedoch so sehr, dass er für den letzten Vollmond des sechsten Monats einen Wehrrat zusammenrufen ließ. Zu diesem Rat waren alle Fürsten und Ritter des Landes einberufen worden und verpflichtet, dem Aufruf zu folgen. Dass der König einen Wehrrat einforderte, hatte die meisten der Teilnehmer überrascht. Der letzte Rat hatte vor einhundert Jahren getagt, als die Seenländer sich im Krieg mit den Lysidiern befanden. Damals sah die Lage für das Grünland bedrohlich aus, als sich die Hinweise häuften, dass die Uranen, ein Reitervolk, das jenseits des Kepirgebirges lebte, an der Seite Lysidiens auch gegen das Grünland in den Krieg ziehen wollten. Ein glücklicher, nie wirklich geklärter Umstand fügte aber, dass sich die Uranen wieder zurückzogen, kurz nachdem die Vorhut bereits gesichtet worden war. Später zeigte sich aber, dass es ein Bündnis zwischen dem Land-Der-Vielen-Feuer und den Uranen nie gegeben hatte. Damit wurde klar, dass dieses Reitervolk im Alleingang einen Angriff auf das Grünland beabsichtigte, möglicherweise um die Wirren dieser Zeit für seine eigenen Ziele zu nutzen, ihn dann im letzten Augenblick aber wieder abgeblasen hatte. Die Ursache dafür blieb jedenfalls ein Rätsel.
Viele der Fürsten des Grünlandes waren mit den neuerlichen Ereignissen nicht vertraut und begriffen die Tragweite der vage angedeuteten Gründe für die erneute Einberufung des Wehrrates nicht, aber Wechis beabsichtigte, die unerwartet aufgetretene Bedrohung rechtzeitig bekannt zu machen, bevor sie unvorbereitet von einem möglichen Krieg überrascht wurden.
In den folgenden Tagen nach der Einladung erschienen Hagil, Fürst von Schwarzwasser; Thorgund, Fürst von Grundbach; Thorgasmund, Fürst vom Adlerstein; Fürstin Adhasil von Bärenkamp in Vertretung ihres Vaters und weitere fünfunddreißig Fürsten mit ihren Rittern und ihrem Gefolge, zu dem auch immer eine Schar Krieger gehörte. Nach altem Brauch war ebenfalls eine Abordnung der Valedrim-Elfen eingeladen worden, da trotz der Zurückgezogenheit der Elfen ein gutes Einvernehmen zwischen den Namurern und ihnen herrschte. Diese Abordnung bestand aus dem Botschafter der Valedrim, Danan´hô, mit seinem Begleiter Ken´ir sowie einem kleinen Anhang.
Wehrräte und andere landesweiten Treffen zogen in Weißanger immer viel Volk an. Zum einen war es stets ein beeindruckendes Schauspiel, wenn sich die Heerlager mit ihren bunten Zelten und Wimpeln vor der Stadt niederließen. Zum anderen kamen dann mehr als sonst fahrende Kaufleute, um Handel zu treiben. Daneben fanden sich Schausteller und Gaukler ein, um das Volk zu unterhalten und ihre Geschäfte zu machen. In solchen Zeiten erschien Weißanger wie eine Stadt unter Belagerung, obwohl man bei näherem Hinsehen feststellen konnte, dass die Stadttore weit geöffnet waren und die Namurer hinein- und herausströmten. Während beim König entscheidende Dinge beraten wurden, ließen es sich die Leute in und vor der Stadt gutgehen. Doch dieses Mal sollte es weniger lange dauern, als viele erhofften.
In den frühen Morgenstunden des Ratstages war in das Lager rings um Weißanger Ruhe eingekehrt. Von den zahlreichen Feuern stieg nur noch im Wind aufwirbelnder Qualm auf. Die Namurer schliefen in den Zelten oder waren in ihre Häuser zurückgekehrt. Unbemerkt von den Wachen des Königs zog ein kleiner, schwarzer Schatten hoch in den Lüften über den Himmel.
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