Jeder König aus Merowinths Geschlecht hatte die vererbte Pflicht, im Falle der Rückkehr von Kryonos bereit zu sein, erneut gegen ihn zu kämpfen. Im Lauf der eintausend Jahre war der königliche Zweig dieser Familie jedoch ausgestorben. Daher hatte Thorgren als der letzte Nachkomme des wichtigsten Seitenzweiges von denen, die noch existierten, wie auch seine bisherigen geradlinigen männlichen Vorfahren und noch ungeborenen Nachkommen, falls es erforderlich wurde, diese Aufgabe zu erfüllen.
Thorgren wusste, dass diese Aufgabe in jener Legende um Merowinth begründet lag, obwohl er nie ganz sicher war, ob der Rückzug von Kryonos tatsächlich etwas mit dem vermuteten Sieg des Königs zu tun hatte. Andererseits, welche Art von Sieg sollte es gewesen sein, wenn Kryonos immer noch lebte? Zu vieles war ungeklärt geblieben. Für ihn selbst waren diese Dinge immer fern und unwirklich gewesen, und sie hatten ihn wenig gekümmert. Und nun, wo das Schicksal ihn anscheinend dazu ausersehen hatte, gegen Kryonos anzutreten, fragte er sich, warum niemals versucht worden war, ihm ein Ende zu bereiten, während er geschwächt in seinen Höhlen hauste. Doch er fand keine befriedigende Antwort. Mit seinem derzeitigen Auftrag konnte es jedenfalls nichts zu tun haben.
Thorgren schreckte aus seinen Gedanken auf. Waren da schleichende Schritte? Rasch zog er sein Schwert und wich in eine hintere Nische zurück. Von hier konnte er den Eingang zur Haupthöhle beobachten und war dennoch selbst vor allzu leichter Entdeckung geschützt. Wieder hörte er ein schlurfendes Geräusch. Dieses Mal näher und deutlicher. Was ihm jetzt noch fehlte, war die Begegnung mit einem der gefürchteten Trolle, die vereinzelt in den Grauen Bergen hausten.
Im gleichen Augenblick kam eine gebeugte Gestalt durch den Felsspalt. Sie war groß und trug eine Kutte nach Art der Druiden. Die Kapuze war über ihren Kopf gestülpt. Der Fremde warf im Licht des Feuers einen unruhigen und übergroßen Schatten an die Wand. Es musste ein alter Mann sein. Er ging langsam und wirkte erschöpft, als hätte er die Last von Jahrhunderten auf seinen Schultern. Thorgren erkannte ihn sofort, und in diesem Augenblick warf der späte Besucher mit erstaunlicher Geschmeidigkeit seine Kapuze in den Nacken und ein zerfurchtes, vollbärtiges Gesicht kam zum Vorschein, umgeben von dichtem, ergrautem Haar, das hinter dem Kopf zu einem Zopf gebunden war.
„Thorgren von Hedau, Sohn des Thorben von Hedau und Seneschall Harismunds, des Königs des Seenlandes! Wo versteckst du dich?“, rief er mit kräftiger, sonorer Stimme.
Thorgren fiel belustigt auf, dass an diesem Abend seine Abstammung und sein Rang erstaunlich oft erwähnt wurden. Er trat aus dem Schatten hervor und steckte sein Schwert zurück in die Scheide.
„Melbart, alter Freund“, begrüßte er den alten Mann. „Ich freue mich, dich hier zu sehen, aber welch ein merkwürdiger Umstand führt dich in diese unwirtliche Gegend?“
Beide Männer umarmten sich zur Begrüßung.
„Zuerst einmal würde ich gern etwas essen und trinken“, meinte Melbart. „Ich bin schon lange unterwegs, und das Wetter macht eine Wanderung nicht zu einem sehr erfreulichen Unternehmen.“
Thorgren ging zu den Vorratsfässern, nahm einige Stücke Dörrfleisch heraus und füllte einen Krug mit Bier für Melbart. Nachdem sich beide an das Feuer gesetzt hatten und Thorgren Holz nachgelegt hatte, begann Melbart zu sprechen.
„Wenn ich richtig unterrichtet bin, hattest du vor mir schon einen Besuch. Darüber müssen wir reden. Aber was mich angeht, ich war gerade auf dem Weg zu einer Versammlung meines Ordens, und ich glaube, der Anlass für unseren Rat und die Nachricht an dich ist der gleiche. Jedenfalls scheint der Frieden wieder einmal in Gefahr. Dieses Mal durch einen Feind, der so groß und mächtig werden könnte, wie wir es schon seit langem nicht mehr fürchten mussten, und von dem viele gehofft hatten, er wäre besiegt worden. Die Wahrheit kennen im Augenblick nur wenige.“
„Was mich betrifft, kenne ich sie nur so weit, wie mein Auftrag es erfordert“, meinte Thorgren. „Dass ich die ganze Entwicklung durchschaue, kann ich nicht behaupten.“
„Sei versichert, das wird sich bald ändern. Trotz Nigalls Aufforderung wirst du zuerst nach Schibrasch-dim gehen, nehme ich an?“
Melbart gehörte zu den wenigen Vertrauten König Harismunds, die um dessen Bündnisbemühungen mit den Lysidiern wussten.
„Ja“, antwortete Thorgren. „Der Geist König Nigalls hat mich nicht ausdrücklich zur Eile aufgefordert, und wie du weißt, ist König Harismund daran interessiert, mit den Lysidiern einen wirklichen Frieden auszuhandeln. Wenn der Krieg auch seit einhundert Jahren vorbei ist, so gibt es doch nur einen unerklärten Waffenstillstand zwischen unseren Völkern. Ich will versuchen, erste Schritte für eine Annäherung unserer beiden Länder zu unternehmen und hoffe, – zusammen mit König Harismund –, dass letztlich ein Bündnis dabei herauskommt.“
„Ein Bündnis für den Frieden oder den Krieg?“, warf Melbart ein, obwohl er die Antwort bereits kannte.
Thorgren sah ihn ernst an und zögerte einen kurzen Augenblick.
„Genau hier liegen die Schwierigkeiten“, gab er zu. „Wir hätten natürlich lieber eins im Frieden und aus freien Stücken. Allerdings scheint die Lage im Norden dagegen zu sprechen, fürchte ich. Und jetzt muss ich versuchen, Zethimer davon zu überzeugen, dass Kryonos´ Krieger sehr bald auch seine Feinde werden können, denn nach Nigalls Worten scheinen die Überfälle erst der Anfang zu sein, wenn es stimmt, dass Kryonos wieder erstarkt. Bisher waren wir immer der Meinung, die Bestien würden selbständig handeln, wenn auch ungeordnet und wenig wirkungsvoll. Die Gründe dafür waren uns jedoch unbekannt. Dass Kryonos wieder beginnt, die Fäden zu ziehen, wie Nigall behauptet, und ich zweifle nicht daran, wird für einige eine unangenehme Überraschung sein. Möglicherweise stärkt diese Tatsache aber meine Verhandlungsposition bei König Zethimer, und ich kann ihn leichter davon überzeugen, dass Kryonos und seine Krieger für ihn genauso gefährlich werden können wie für uns.“
„Dein Vorhaben ist in der Tat nicht einfach, aber notwendig, gerade in dieser Zeit“, meinte Melbart. „Und ich denke, für einige notwendige Entscheidungen unseres Rates brauchen wir noch ein paar Tage, die du bei Zethimer nutzbringend verwenden kannst.“ Thorgren sah ihn fragend an und der Ordensmann fuhr fort: „Vor kurzem fand bei König Wechis in Weißanger ein Wehrrat statt. Das konntest du nicht wissen. Dort wurden einige wichtige Beschlüsse gefällt, die auch dich betreffen, und von denen du noch erfahren wirst. Doch davon mehr zu einem späteren Zeitpunkt. Jedenfalls haben die Namurer an ihrer Ostgrenze die gleichen Beobachtungen gemacht wie ihr, nur vermutete der König anfangs, dass ausschließlich seine Grenze bedroht ist. Ich klärte ihn dann aber über die nicht weniger besorgniserregende Entwicklung in deinem Land auf, und ich bin sicher, dass ihn das beunruhigt hat.“
„Dann scheinen sich größere Dinge anzubahnen, als wir dachten, und der Aufruf Nigalls an mich kommt vielleicht nicht zu früh. Gleichwohl weiß ich nicht so recht, was er von mir erwartet. Aber eines ist klar, ich werde vorerst nicht wieder nach Thorafjord zurückkehren können. Das wird Harismund wahrscheinlich nicht freuen, doch das scheint mir das kleinere Übel. Die Aufgabe meiner Familie, also meine, geht vor, und ich muss wohl als Nächstes in die Schwarzen Sümpfe, um die Seherin zu treffen. Allerdings gebe ich zu, dass ich keine Ahnung habe, was ich dort überhaupt soll. Ihr Name ist im Augenblick der einzige Hinweis. Du kannst mir auch keine Antwort geben, oder? Hm, das habe ich mir gedacht.“
Melbart hatte auf Thorgrens Frage nur leicht den Kopf geschüttelt und nachdenklich in die Flammen des Feuers geblickt.
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