Der Reiter schonte sein Pferd nicht, aber es war ausdauernd und zäh. Das Tier hatte mit seinem Herrn schon manche Abenteuer und Gefahren bestanden, und dieses Mal schien es besonders zu spüren, dass es auf seine Kraft ankam.
Der Regen nahm die Sicht, und nichts mehr an dem Mann und seiner Ausrüstung war trocken. Grelle Blitze zuckten vom Himmel und blendeten die Augen. Krachender Donner rollte durch die engen Gebirgsschluchten der Grauen Berge. Die Kälte ließ seine Gliedmaßen klamm und steif werden, obwohl es Sommer war.
Erschöpft erreichten sie schließlich die Höhe des Aghor-Passes. Hier oben lag die sogenannte Große Depothöhle mit dem wichtigsten Vorratslager, das König Harald, der Großvater des jetzigen seenländischen Königs Harismund, auf dieser wichtigen Bergquerung anlegen ließ. Das Netz der Versorgungshöhlen stammte noch aus der Zeit des Lysidien-Krieges und hatte vielen Regimentern, die über den damals schwer zugänglichen Aghor-Pass zogen, gute Dienste geleistet. Sie wurden auch weiterhin von königlichen Heerscharen genutzt, aber mittlerweile war die Straße ausgebaut worden und bequemer zu bereisen.
Vor Regen triefend, zog der Reiter sein Pferd in die Höhle. Hier waren sie vor feindlichen Augen sicher, auch wenn an diesem Tag die Gefahr einer Entdeckung gering war.
Die Höhle bestand eigentlich aus zwei Kammern. Durch eine kleine Vorhöhle, die man unverändert gelassen hatte, konnte die Haupthöhle durch einen schmalen Spalt, der gerade einen Reiter und sein Pferd durchließ, erreicht werden. Hier war es gefahrlos möglich, ein Feuer zu entzünden, ohne dass es nachts von draußen zu sehen gewesen wäre. Schnaufend und dampfend ließ sich das Pferd in die große Höhle führen. Plötzlich fing es mit einem unruhigen Wiehern an, nervös zu tänzeln.
„Ruhig Mondblesse!“, sagte der Reiter und klopfte beruhigend den Hals des Tieres. „Was hast du denn? Niemand anderes als wir beiden ist hier.“
Der Mann sah sich um und versuchte, etwas Auffälliges zu entdecken, konnte aber in der Dunkelheit nichts erkennen oder hören. Er kannte sein Pferd aber und wusste, wie es reagierte, wenn irgendetwas nicht in Ordnung war. Jetzt spürte er es auch. In der Höhle war es dunkel und still – unnatürlich still, wie er fand, einmal abgesehen vom Schnaufen und Stampfen des Tieres. Kein Donnerhall, kein entferntes Aufflackern eines Blitzes erreichte die innere Höhle. Nicht einmal das leise Pitschen von Wassertropfen an der hinteren Felswand konnte er vernehmen, obwohl bei einem solchen Wetter immer Regen durch unentdeckte Felsspalten sickerte und irgendwo im Boden wieder verschwand.
Der Mann ließ das Pferd los und ging langsam und leise in die Mitte der Höhle. Er fühlte weniger Furcht als erwartungsvolle Unruhe. Er entzündete eine Fackel und ein zitterndes, trübes Licht erfüllte den Raum, das ihn schwach die Lagerfässer, die Flaschen und das Geschirr in den Regalen, die Kisten mit den Handwaffen, die Schilde und Speere an den Wänden und die sauber aufgestapelten Schlafdecken erkennen ließ. Alles schien unberührt und in tadellosem Zustand – und doch, irgendetwas kam ihm seltsam vor. Dann plötzlich wurde der Raum von einem türkisen Glühen erfüllt. Die Haut des Mannes kribbelte. Sonst geschah zunächst nichts. Das Leuchten aber wirkte übernatürlich.
In der Mitte des Raumes entstand ein gelborange leuchtender Lichtpunkt. Er vergrößerte sich rasch und nahm bald die Form eines Menschen an, dessen Oberkörper in einer hellen Aura inmitten der Höhle schwebte. Es war die Erscheinung eines Mannes, den der Reiter gut kannte, obwohl er ihn bisher nur auf Gemälden gesehen hatte.
„König Nigall!“, entfuhr es dem Reiter erstaunt und ungläubig, als er den Geist des ersten bekannten Königs des Seenlandes erkannte.
„Thorgren von Hedau! Sohn des Thorben von Hedau und Seneschall des Königs Harismund! Ich grüße dich“, erscholl die unerwartet tiefe, Ehrfurcht gebietende Stimme des Geistes.
Es entstand eine kurze Pause und die Stimme verhallte im Berg.
„Die Zeit der Erfüllung der Aufgabe deiner Familie naht. Jetzt obliegt sie dir. Kryonos kommt wieder zum Vorschein. Vollende, was angefangen wurde. Erinnere dich der Legenden. Suche die Seherin Branwyn in den Schwarzen Sümpfen auf. Sie wird dir eine Hilfe sein bei dem, was deiner Familie auferlegt wurde. Sie erwartet dich!“
Bevor Thorgren antworten konnte, verblasste die Erscheinung wieder. Er hatte die Worte gehört, war sich aber keineswegs sicher, ob er sie verstanden hatte. Von welcher Aufgabe hatte der Geist König Nigalls gesprochen? Was bedeutete das alles? Und warum hatte der Geist keine Fragen abgewartet?
Die Fackel war erloschen, und wieder umgab Thorgren eine tiefe Finsternis. Das Grollen des fernen Unwetters ließ den Felsen schwach erzittern und vereinzeltes Flackern der Blitze schimmerte dann und wann an den Wänden der Höhle nahe des Felsspaltes, als sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Thorgren entzündete die Fackel erneut. Kurz darauf erfüllte das Knistern und das Licht eines kleinen Feuers die Höhle, nachdem er einige Holzscheite auf einer der Feuerstellen in Brand gesetzt hatte. Er nahm Mondblesse das Zaumzeug ab, lud das Gepäck und den Sattel von seinem Rücken und versorgte ihn mit Wasser und Hafer aus den gelagerten Vorräten. Inzwischen hatte sich das Pferd wieder beruhigt. Nun ließ Thorgren sich an dem wärmenden Feuer nieder. Während er Brot und getrocknetes Fleisch aß und Bier aus einem der Lagerfässer trank, dachte er über die Erscheinung König Nigalls nach.
Sein Vorfahr hatte den Namen Kryonos erwähnt. Natürlich hatte Thorgren bereits von ihm gehört, wenn er auch nur eine verschwommene Vorstellung hatte, welches Wesen sich dahinter verbarg. Plötzlich fiel ihm wieder die Geschichte von König Merowinth ein. Aus dessen Linie stammte er selbst ab. Dieser berühmte König des Seenlandes war vor langer Zeit mit einer kleinen Schar von Kriegern aufgebrochen, um Kryonos die Stirn zu bieten. Es war während des Großen Krieges, als die Völker von Erdos ihrem Untergang nahe waren. Bis in Thorgrens Tage hatten sich zahlreiche Legenden um diesen sagenhaften König erhalten, obwohl später nur wenig über das bekannt wurde, was sich damals wirklich ereignet hatte. Sicher war nur, dass die noch lebenden Bestien die Überreste von Kryonos´ ehemals übermächtigen Heeres waren. Wenn die Legenden von König Merowinth auch behaupteten, dass sein Eingreifen schließlich zum Sieg über sie geführt hatte, erklärten sie doch nicht, was tatsächlich geschehen war, denn bedauerlicherweise war keiner aus seiner Schar jemals zurückgekehrt. Auffällig war allenfalls, dass einige Zeit nach Merowinths Aufbruch Kryonos´ Macht plötzlich verfiel, daran erkennbar, dass sich seine Heerscharen auflösten und von den Orten der Kämpfe zurückzogen, um im Kepirgebirge und in den Nördlichen Winterbergen Zuflucht zu suchen. Viele von Kryonos´ Kriegern flüchteten sich auch in die Grauen Berge, konnten dort nach und nach aber aufgestöbert und erschlagen werden. An den nördlichen und östlichen Grenzen war anschließend ein dichtes Wachnetz aufgebaut worden. Es war bis in die Tage Thorgrens erhalten geblieben.
Da Kryonos´ Rückzug unter ziemlich rätselhaften Umständen stattgefunden hatte, fürchteten die Bewohner von Erdos in der ersten Zeit nach dem Krieg, dass er früher oder später wieder auftauchen würde, obwohl er selbst niemals an den Schauplätzen der Kämpfe erschienen war. Es wurde allgemein angenommen, dass Kryonos aus unbekannten Gründen an die Domgrotten des Verlorenen Berges gefesselt war, nachdem er seine Macht eingebüßt hatte. Er galt immer noch als lebendig. Es waren aber aus unerfindlichen Gründen keine Versuche unternommen worden, ihn endgültig zu töten, und mittlerweile war die Gefahr aus dem Bewusstsein der meisten Erdaner verschwunden. Nur noch den Herrschern und wenigen Gelehrten war er bekannt, und das auch nur aus den Legenden, wie es anders auch nicht sein konnte.
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