„Ich fürchte, es geht um das Achôn-Tharén“, meinte Melbart finster und halb in Gedanken. „Aber die Dinge sind noch zu undeutlich.“
„Das Achôn-Tharén?“, fragte Thorgren erstaunt. „Du meinst das Wesen, das Kryonos seine Macht verlieh, und von dem die Legenden sprechen. Also gibt es das doch?“
„Junge, was dachtest du denn?“, fragte Melbart mit erhobener Stimme, der von den Vorbehalten seines Schülers gegenüber besonders dieser Überlieferung wusste. „Habe ich nicht immer wieder versucht, es dir in Erinnerung zu rufen? Ich tat es doch nicht aus Langeweile. Ich wünsche es dir beileibe nicht, aber ich fürchte, du wirst bald die traurige Erfahrung machen, wie viel Wahrheit in meinen Worten steckt.“
Melbart hatte Thorgren mehr als einmal über diese Legende erzählt, sich danach aber oft geärgert, dass Thorgren sie offensichtlich nicht allzu ernstnahm. Wenn sich Melbart nicht so sicher gewesen wäre, dass Kryonos´ erneutes Erstarken in das Leben Thorgrens fiele, dann hätte er seine Versuche, bei ihm die Erinnerung an das Achôn-Tharén wachzuhalten, frühzeitig aufgegeben.
„Dann stimmt es also“, sagte Thorgren nachdenklich. „Aber du weißt, was ich von diesen Dingen halte – ich sollte jetzt vielleicht sagen, gehalten habe, denn nun scheinen sie mich aus der Dämmerung der Zeit heimzusuchen. An den Legenden selbst habe ich aber gar nicht gezweifelt, auch wenn du das glaubst, aber dass sie in meinem Leben wieder an Bedeutung gewinnen würden, war mir unvorstellbar. Du bist wirklich sicher, dass das Achôn-Tharén wieder aufgetaucht ist?“
„Oder kurz davor steht, es zu tun. Ja, da bin ich sicher.“
„Wenn Zethimer das Achôn-Tharén ein Begriff ist, könnte dieser Umstand meinem Anliegen ein zusätzliches Gewicht verleihen“, hoffte Thorgren.
„Jedenfalls häufen sich Nachrichten, die darauf hindeuten“, fuhr Melbart fort. „Aber bereits die Schriften des Schicksals geben Hinweise darauf, dass die Zeit des Kryonos bald wieder anbrechen wird.“
„Ja, ich habe von diesen Schriften gehört“, meinte Thorgren. „Aber über ihren Inhalt weiß ich nichts.“
Melbart lächelte. „Sonst wären sie ja nicht geheim. Nur die Mitglieder unseres Ordens kennen sie. Und doch hoffe ich, dass Kryonos uns noch eine ausreichende Frist lässt, um uns vorzubereiten. Und dir obliegt dabei eine besondere Aufgabe. Du weißt noch nicht, was genau dein Anteil an den kommenden Ereignissen sein wird? Warten wir ab, was Branwyn von dir will, mehr kann ich dir im Augenblick nicht raten. Aber letzten Endes wurdest du aufgrund deiner Abstammung für den Kampf gegen Kryonos ausgewählt, wie immer er aussehen mag. Das ist die Pflicht, die deinem Haus auferlegt ist, und ich fürchte, sie könnte sich schnell als ein Fluch für dich erweisen. Trotzdem, du musst versuchen, sie zu erfüllen, und deshalb bist du seit deiner Kindheit darauf vorbereitet worden, wie dein Vater und dein Großvater.“
„Wie du zu deinem Leidwesen bemerkt hast, habe ich eure Bemühungen lange Zeit nicht sehr ernstgenommen, ich habe euch für nette Onkel gehalten, die aufregende Geschichten zu erzählen wussten. Erst spät wurde mir klar, dass ihr, du und deine Brüder, mir eine besondere Aufmerksamkeit geschenkt habt. Den Grund hierfür erfuhr ich aber erst von meinem Vater kurz vor seinem Tod.“
„Es durfte nicht anders sein“, erklärte Melbart. „Bis zu seinem Tod stand dein Vater in dieser Pflicht. Auch dir wurde die Schweigepflicht auferlegt. Und trotzdem, du hattest Zweifel – bis heute.“
„Kannst du das nicht verstehen?“, fragte Thorgren. „Seine Worte kamen ziemlich überraschend, trotz aller vorangegangenen Unterweisungen durch euch. Ich fühlte mich noch nicht ausreichend vorbereitet. Bis heute hatte ich ihnen nur wenig Bedeutung beigemessen, weil mir niemand gesagt hat, dass sie in nicht allzu ferner Zeit drängend werden könnten.“
„Weil du uns nicht aufmerksam zugehört hast, aber das alles ist nicht mehr wichtig, denn jetzt bricht bald die Zeit der Bewährung an“, meinte der Magier. „Du wirst dich von jetzt an wohl etwas eingehender damit beschäftigen müssen.“
„Tja, so habe ich König Nigalls Aufforderung auch verstanden“, meinte Thorgren. „Glaubst du, dass sie so dringend ist, deswegen meinen jetzigen Auftrag zu vernachlässigen?“
Inzwischen war Thorgren unsicher geworden.
„Nein, auf keinen Fall“, widersprach Melbart entschieden. „Für die kommende Auseinandersetzung mit Kryonos ist er sogar von großer Bedeutung. Die Lysidier werden dringend gebraucht.“
Thorgren nickte.
„Gut, dann sind meine nächsten Schritte eigentlich klar. Ich werde zuerst zu König Zethimer reiten. Es sind nur noch zwei Tagesritte. Anschließend werde ich dann in die Schwarzen Sümpfe zu Branwyn aufbrechen, wie der Geist Nigalls es von mir verlangt hat. Was danach geschieht, werde ich sehen.“
„Ich bin sicher, dass du durch sie erfahren wirst, wie es weitergeht“, meinte Melbart zuversichtlich.
Es entstand eine kurze Pause. Das Feuer knisterte und irgendwo in der Höhle fielen Tropfen von der Decke. Mondblesse stampfte leise mit den Hufen, und von draußen war immer noch gelegentliches dumpfes Donnergrollen zu hören. Nachdenklich zog jeder an seiner Pfeife und dichter Rauch stieg zur Decke der Höhle.
„Wenn du am Hofe Zethimers bist“, begann Melbart erneut, „dann wende dich an Bruder Angulfin. Du kennst ihn. Er ist ein Mitglied meines Ordens und hält sich gerade in Schibrasch-dim auf. Ich gebe dir diesen Kristall für ihn mit.“
Melbart zog einen grünlich schimmernden, walnussgroßen Kristall aus seiner Kutte und gab ihn Thorgren, der ihn in ein Tuch wickelte und in seiner Gürteltasche verstaute. Solche Kristalle waren ihm bekannt. Mit ihrer Hilfe tauschten die Magier Nachrichten aus.
„Was wirst du als Nächstes tun, Melbart?“, fragte Thorgren, der wusste, dass der Alte oft und auf geheimen Pfaden die Länder bereiste. Nach dieser Unterredung war er auch nicht mehr überrascht, Melbart zu dieser Stunde an diesem versteckten Ort getroffen zu haben und noch dazu mit dem Wissen um die Erscheinung Nigalls. Seine Ankunft in dieser Höhle war kein Zufall, wenn auch unerwartet für Thorgren. Gerüchte behaupteten, dass Mitglieder des Ordens von Gebir, dem auch Melbart angehörte, an zwei Stätten gleichzeitig aufgetaucht sein sollen. Da hatte Thorgren zwar seine Zweifel, aber es waren mächtige Zauberer. Und daran zweifelte er nicht.
Melbart hatte ihm nie offenbart, wo die Ordensversammlungen stattfanden. Niemand wusste, wie alt der Orden war, woher er kam und wie viele Brüder er umfasste. Und selbst den Ort seines Sitzes hatte er Thorgren bisher niemals verraten. Einige Mitglieder, wie Melbart und Angulfin, waren bekannt und traten mit einer gewissen Häufigkeit in der Öffentlichkeit auf, während andere im Verborgenen wirkten und unsichtbar blieben. Es galt aber als nachgewiesen, dass ihr erstes Auftauchen mit dem von Kryonos zusammenfiel. Es gingen Gerüchte um, die die Zauberer unsterblich machen wollten, was Thorgren allerdings ebenso für unwahrscheinlich hielt, wenn er auch zu glauben bereit war, dass die Ordensbrüder ein sehr hohes Alter, verglichen sogar mit dem der Elfen, erreichen konnten.
Ihr größtes Geheimnis war allerdings ihre Mission. Niemand wusste genau, was ihre Anwesenheit auf Erdos bedeutete. Sicher nahmen sie Einfluss auf die Schicksale der Völker und manchmal, wie im Falle des Hauses Merowinths, auch auf das von einzelnen Menschen. Den Grund für ihr Handeln kannte aber niemand, soweit bekannt war. Trotz aller Geheimnisumwitterung dieses Ordens konnte aber bisher niemand ernsthaft behaupten, dass er sich gegen die Völker von Erdos gewandt hatte, abgesehen von denjenigen, die mit Kryonos verbündet waren, und das galt bisher nur für die Uranen. Die Haltung der Zwerge ließ erst in jüngster Zeit gewisse Zweifel aufkommen. Die Mächtigen von Gebir hatten sich stets als gute Ratgeber und wirksame Helfer gegen ihn, den Schrecken von Erdos, erwiesen.
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