»Was, zur Hölle, ist hier eben passiert?« Max reichte seinem Mentor eine Hand.
Walter hievte sich vorsichtig aus dem Sitz und nahm seinen Husarenhelm ab. Der Kinnriemen hatte sich in seinen Unterkiefer eingeschnitten. Ein fetter Striemen brandmarkte den Wachtmeister.
»Anscheinend nichts«, antwortete Max fassungslos auf seine eigene Frage.
Die Menschen begannen mit den Aufräumarbeiten als wäre nichts geschehen. Sie unterhielten sich, schäkerten und säuberten innerhalb weniger Minuten den Straßenzug. Selbst Leichnam nebst Vehikel waren nach ein paar Lidschlägen in einer Seitenstraße verschwunden. Holzbretter sicherten die zerstörten Schaufenster.
»Die Leute haben Angst.« Da nahm sich Walter nicht heraus. »Sie halten lieber den Mund und schauen unbeteiligt zu als unter die Räder zu kommen. Ein gesunder Selbsterhaltungstrieb.« Er schaute an Max herab, in dessen Hand er den Revolver erblickte. »Was hattest du damit vor? Wolltest du dich einmischen? Du kannst froh sein, dass du noch am Leben bist. Kannst du damit überhaupt umgehen?«
»Zielen, abdrücken, fertig.« Max krümmte den Abzugfinger in der Luft.
Unbeeindruckt stützte Walter seinen rechten Arm mit schmerzverzerrtem Gesicht.
Mit der Abenddämmerung schlurfte Max mit abgewetzter Schiebermütze und dunklem Jackett an aufgereihten Häusern in der Vorstadt vorbei. Die einen entsprangen einem urbanen Postkartenmotiv, die anderen vertrugen etwas Pflege, trotz des provinziellen Charmes. In den kiesbedeckten Auffahrten warteten Karossen der August & Cie. Automobilwerke auf den nächsten hereinbrechenden Morgen, der ihrem Dasein den wahren Sinn vermittelte, wenn die Herrschaften in aller Herrgottsfrühe mit Glukose im Blut ihrem tristen Alltag nachgingen indem sie erst einmal fuhren.
Je näher er seinem Haus kam, desto zögerlicher wurden seine Schritte. Der Einschnitt belastete das eheliche Dasein. Man weiß zunächst nicht, wie man weitermachen soll. In einigen Momenten zweifelt man daran, überhaupt weiterzumachen. Und dann gibt es die Momente, in denen der Zorn waghalsige Pläne schmiedet.
Viele Familien in der Nachbarschaft waren um diese Uhrzeit am Tisch versammelt und saßen während sie aßen. Seichtes Licht drang auf die Straße. Die Schornsteine zeigten, dass die Kamine die vier Wände wärmten.
Max schlängelte sich am Licht vorbei. Er bevorzugte das Zwielicht. Die frischen Kratzer in seinem Gesicht pochten. Mittlerweile wusste er, wie viele es waren und wie tief. Nichts für die Ewigkeit, lediglich temporär. Diese Wunden würden verheilen, auch wenn zum Andenken Narben zurückblieben. Er zog die Mütze weiter nach unten. Niemand sollte bei seinem Anblick erschrecken.
Stumm betrat er sein Haus, das wie die Gartenhütte eines richtigen Hauses anmutete. In zweiter Reihe, im Schatten der richtigen Häuser. Er entledigte sich seiner Schiebermütze und streifte das schwarze Jackett ab. Düsternis empfing ihn herzlich. Kalte Stille ummantelte ihn. Er begann zu frösteln. Die undichten Fenster hatten der Kälte von draußen kaum taugliches Material entgegenzusetzen.
Wie so oft in den letzten Tagen verharrte er lautlos. Er wartete auf einen Ton – Klirren von Geschirr, Knarren von Schranktüren, ein Atemgeräusch, ein Räuspern, ein Schluchzen. Und jedes Mal stellten sich seine Nackenhärchen auf, wenn er nichts von alledem hörte. Aus der Küche drang schwacher Kerzenschein hervor. Erleichtert und doch angespannt tastete sich Max dem Licht entgegen.
Lena schlief mit vergrabenem Haupt im Schoß ihrer Arme auf dem Tisch in der Küche. Dicke Wollsocken wärmten ihre Füße. Einen kurzen Moment verharrte Max, um die schlechten Gedanken abzustreifen und seine wunderschöne Frau zu beobachten. Lenas Haar glänzte im Schein des verdampfenden Stearins der Kerze. Narben überzogen ihre Arme. Einige oberflächliche Kratzer schienen frisch verkrustet, andere tiefe Krater waren bereits verwachsen. Bedrückt stierte Max auf die Mahnmale. Nun verbanden ihn auch körperliche Aspekte mit seiner Angetrauten. Bisher teilten sie lediglich seelische Narben. Die offenen Risse in seinem Gesicht pulsierten, glühten und brannten wie Feuer. Es schmerzte umso mehr, den leibhaftigen Spiegel auf dem Küchentisch zu sehen. Er wusste nicht einzuordnen, ob ihre Schnitte Missgeschick oder Vorsatz waren. Er wusste nicht, ob sie Hilferuf, Katharsis oder Absolution darstellten.
Als er Lena behutsam schulterte, streifte eine ihrer zarten Hände eine leere, konisch geformte Flasche mit verdächtigem Aufdruck. Abgebildet war eine goldene Blume. Das tänzelnde Glas versprühte ein bitteres Duftaroma, leicht krautig im Nachgang. Mit der freien Hand nahm Max die Flasche und kostete die letzten Tropfen, die sich im Flaschenboden gesammelt hatten. Trotz der Verdünnung durch Lenas Speichel konnte er seinen Verdacht bestätigen: Limonade. Ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Er wollte mehr, konnte die Gier aber schnell herunterwürgen. Neben seiner schwindenden Kraft, Lena weiter auf der Schulter im Gleichgewicht zu halten, raste sein rastloser Geist. Nicht nur, dass sich seine Frau ritzte. Sie hatte eine Quelle für Limonade gefunden und schien diese eifrig zu nutzen. Gleich nachdem er sie ins Bett getragen hätte, würde er das Haus nach weiteren Flaschen durchsuchen. Erstens, weil er kein geregeltes Leben mit Schmugglerware im Keller führen konnte. Zweitens, weil er wahnsinnig Appetit bekommen hatte.
Ein Schuss hallte durch den Hinterhof der Polizeidirektion. Das Projektil schlug in eine künstliche Wand aus dicken Getreideballen ein und wurde verschluckt. Davor waren fünf Konservendosen in einer Reihe auf einem flachen Holzregal positioniert. Dutzende Scharten überzogen die Stirnseite des Regals. Dellen im Blech zeigten, dass die Dosen auch schon getroffen wurden. Dieses Mal jedoch nicht.
»Keine Bange, bleib bei der Stange, mein Junge«, raunte Walter gutmütig. Sein Arm war in dicken Gips gepackt und an seinem Hals mit einem Tuch befestigt. Bis auf den Husarenhelm glänzte er in Uniform, wie auch sein jüngerer Tutand.
Max feuerte erneut, konnte aber wieder keinen Treffer landen. Wütend schnaufte er.
»Du denkst zu viel. Steck die Pistole ein. Dreh dich weg. Dann drehst du dich wieder zum Ziel, holst die Pistole hervor und schießt. Das alles innerhalb weniger Sekunden.« Walters Hand lag locker auf seinem Holster. Da sein Waffenarm gebrochen war, hatte er sich seine Bertha auf links gelegt, in der Hoffnung, nie ziehen zu müssen. Er bezweifelte, dass er sein Schmuckstück überhaupt aus der Halterung bekam. Außer zum Pinkeln war seine linke Hand zu nichts zu gebrauchen.
Der junge Kadett befolgte den Rat und spielte den Ablauf durch. Er steckte die qualmende Waffe ins Holster, drehte sich weg, um sich gleich wieder dem Ziel zu widmen, zog die Waffe und feuerte ohne großartig anzuvisieren. Tatsächlich traf er diesmal nicht die Schutzwand, sondern das Holzregal. Ein paar Holzsplitter flogen durch die Luft und die äußerste Dose wackelte kurz.
Walter nickte zufrieden im Einklang mit dem Schall, der noch eine Weile an den Häuserwänden sein Unwesen trieb. »Gleich nochmal.«
Der nächste Schuss. Haarscharf vorbei.
»Nochmal.«
Peng. Ein zweiter Treffer ins Holzregal. Aus Mitleid fiel eine der Dosen um.
»Und nochmal«, trieb Walter seinen Schützling unerbittlich an.
Mit Erfolg. Das Gummigeschoss erwischte die mittlere Dose und riss sie vom Regal. Max leerte zwar noch das Magazin, konnte aber keinen weiteren Abschuss verbuchen. Trotzdem schien er von seinen Künsten überzeugt zu sein.
»Wenn es zu einer Schießerei kommt, geht es nicht darum, so viel wie möglich rumzuballern. Du musst mit wenigen Schüssen die Kontrolle erlangen. Jeder Schuss muss sitzen. Verfehlst du einen, wird er dich abknallen«, monologisierte Walter. »Wenn du die Pistole in die Hand nimmst, musst du bereit sein zu schießen. Und du musst dir sicher sein, dass du triffst. Ansonsten solltest du schnell weglaufen.«
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