Eine Kerze brannte noch. Die übrigen waren längst verloschen. Selbst der letzte flammende Docht flatterte nervös. Das ausdampfende Wachs ging langsam zur Neige. Außerhalb dieses kleinen Lichtschimmers herrschte unangenehme Dunkelheit, auch weil der Niederschlag von außen gegen die Fenster schlug. In dem kleinen Umkreis aus versiegendem Licht harrten die beiden aus, in einer vertrockneten Blutlache.
Max starrte in die Dunkelheit. Seine Gedanken kreisten, während er sich sein Hirn zermarterte. Was war geschehen? Wie konnte die Situation derart eskalieren? Wieso hörte seine Frau nicht auf ihn? Und wer wagte es, Hand an sie zu legen? Er wusste zwar nicht, was geschehen war, aber ihre reumütigen Blicke, als er sie gefunden hatte, sagten ihm, dass sie in seiner Abwesenheit etwas getan hatte, was ihm missfiel. An ihren schlammigen Stiefeln hatte er erkannt, dass sie auf einem Fabrikgelände unterwegs gewesen sein musste. Eins und zwei konnte er zusammenzählen.
Jeder neue Gedanke zerfurchte seine Stirn aufs Neue, weil er seine Augenbrauen wütend gen Boden zog. Er bemerkte erst sehr spät, dass er in Rage Lena ungeheuer kraftvoll an sich drückte. Umgehend lockerte er seinen Griff und sah entschuldigend auf sie herab. Lena rührte sich nicht, bis auf das stetige Heben und Senken ihres Brustkorbes.
Seine Wut überflügelte den Tadel, den sie verdient hatte. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass irgendeine Aktion Gewalt gegen eine Frau, eine schwangere Frau, provozieren könnte. Sei der Mensch auch noch so barbarisch, ethische und moralische Grenzen kennt selbst das verlogenste Scheusal. Er bekam Zweifel. Seine Bekanntschaften im Untergrund waren Abschaum, doch selbst der fieseste Widerling befolgte den ungeschriebenen Kodex, Frauen und Kinder mit Respekt zu behandeln, egal wie schlimm das Vergehen auch war. Max streichelte über den geschwollenen Bauch seiner Frau. Diese Tat musste vom dreckigsten aller Bastarde begangen worden sein. Ein so abgekochtes Schlitzohr, das fehlende verbale und non-verbale Schlagfertigkeit mit eiskalter Skrupellosigkeit wettmachen musste. Diesen Wichser würde Max schnell finden. Doch jetzt musste er sich erst einmal um Lena kümmern.
Nach einer weiteren Weile des Grübelns und mit dem Erlöschen der letzten Kerze trug er sie ins Bett. Das viele Blut an ihr und an seinen Händen würden sie am nächsten Tag bei Helligkeit abwaschen. Der derbe Eisengeruch des getrockneten Lebenssaftes und der nachlassende Regen schickten ihn schnell in die Laken. Die exorbitante Exhaustion katapultierte ihn tief in den Schlaf und sorgte dafür, dass er ohne Albträume regenerieren konnte.
Walter Wolfram und sein neuer Kollege Max Mayerz tuckerten in einem grünmelierten Polizeiwagen durch die Stadt. Das altgediente Fahrzeug entstammte einer ausgemusterten Modellreihe der August & Cie. Automobilwerke . Auf den Seitentüren prangte das Wappen der Polizeidirektion Neu-Berlin und prangerte die hinterherhinkende Notlage im Fuhrpark der Ordnungshüter an. Es war ein feuerspuckender Drache mit ausgebreiteten Flügeln, der sich mit seinen Krallen in die fetten Letter PDNB bohrte. Da es sich um ein einfarbiges Wappen in schwarz-korrodiertem Silber handelte, hätte man auch deuten können, dass sich dieses Urzeitfossil über die plakativen Buchstaben der Polizeidirektion Neu-Berlin erbrach. Ohne die seitlich montierte Sirene, die neuerdings elektrisch betrieben wurde und nicht mehr mit Handkurbel, würde die Unterscheidung zur Müllabfuhr noch schwerer fallen.
Die verlegten Schienen in der Mitte der breiten Straße wurden von offenen, geländerlosen Straßenbahnen genutzt, wo der uniformierte Tramführer Schulter an Schulter mit den Fahrgästen verkehrte. Reger Vehikelverkehr füllte die Straßenzüge der Stadt. Auf den Gehwegen herrschte hektisches Gedränge. Nahezu einheitlich gekleidete Herren mit schwarzen Schuhen, schwarz-grau gestreiften Hosen, schwarzen Jacketts, hellgrauen Westen, weißen Hemden und silbergrauen Krawatten dominierten den korpulenten Passantenstrom. Da Neu-Berlin statistisch an zwei von drei Tagen von Regen mit kaltem Ostwind beherrscht wurde, bedeckten mausgraue Wettermäntel aus geschorener Sterblingswolle die adrette Männerwelt. Gedeckelt wurde das Erscheinungsbild von konformen Filzhüten, die Anonymität als auch moderne Mode vereinten, und den obligatorischen Regenschirmen, die bei seltener Trockenheit zum Gehstock umfunktioniert wurden.
Zwischendurch verirrten sich in die dominanten Herrengruppen einzelne weibliche Geschöpfe, die sich für die seltenen Gelegenheiten in der Stadt besonders auftakelten. Perlenketten und Federboas betonten den frisch frisierten Kopf, während enge Korsetts hübsch anzusehende Dekolletees erschufen und die eine oder andere Speckrolle offenbarten. Ein flatternder Rocksaum bildete den Übergang zu neckischen Strümpfen und Stöckelschuhen mit auffälligen Verzierungen. Diese Dirnen genossen die entrückten Blicke. Für jeden Lüstling mit Karies und Parodontitis war ein passendes Format in Form und Farbe dabei. Das kalte Wetter tat der zeigefreudigen Balz keinen Abbruch.
Saxophondominierte Treibjagdmusik drang leiernd aus den Läden auf die Straße. Meistens von Plattenspielern, seltener von bezahlten Musikern, die sich in einer engen Ecke der kleinen Milchbars zusammenpferchen mussten. Zwischen Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.
Rußpartikel aus Schornsteinen und Auspuffrohren strapazierten die Lungen, weshalb Konversation mit ständigem Husten betrieben wurde. Fahrzeughupen tröteten im Kanon. Pfennigabsätze klapperten einen wilden Rhythmus. Der Ostwind pfiff um die Gebäudekanten und verstärkte sich in den Gebäudeschluchten.
Diese melancholische Melodie der Metropole bekamen Walter und sein adoptierter Filius allerdings lediglich am Rande mit, denn das Funkradio, das in einem Stahlchassis am Armaturenbrett montiert war, rauschte ununterbrochen. Walter klopfte einige Male entnervt darauf – ohne Erfolg.
Max zuckte zwar zusammen, als Walter seine alten Knochen blitzschnell bewegte, um dem Rauschen ein Ende zu bereiten, doch die Miene verzog sich nicht. Dafür hatte dieses eine Ereignis einen zu großen Graben hinterlassen. Es fühlte sich an wie eine frische Wunde, die nicht verheilen wollte und immer wieder aufriss, ihn auffraß. Lena hatte seitdem das Haus nicht mehr verlassen; Max musste des Geldes wegen, auch wenn er nur wie ein Geist umherwandelte.
Bequeme Schaftstiefel in Schützengrau wärmten die Füße der beiden Polizisten. Der Uniformjackenrock in preußischem Jägergrün wickelte die Gendarmen ein wie Fladenbrot Schawarma. Aufgenähte Patten an den Kragenenden spiegelten die Dienstränge wie Ornamente wider – Walter hatte viele, Max keine. An ihren Leibriemen aus porösem Leder steckten die Pistolenholster, die mit ihren gummispuckenden Schmuckstücken bestückt waren, daneben schlummerten die Achter. Um den Hals hing das Halsband der Trillerpfeife, die in der Brusttasche steckte. Zwischen den Sitzen klemmten die Schlagstöcke. Auf ihren Schädeldecken ruhte der Husarenhelm, der sie durch den frontalen Polizeistern autoritär als Gesetzeshüter ankündigte, Kopfläusen ein Rückzugsgebiet bot und die Bewegungsfreiheit entscheidend dezimierte, vor allem wenn man am Fahrzeughimmel entlangschrammte. Wenigstens schützte der Augenschirm des Husarenhelms vor der seltenen Sonneneinstrahlung. Überdies musste der Kinnriemen so festgezogen werden, dass man den Unterkiefer kaum noch bewegen konnte, weswegen die meisten Polizisten im Dienst wegen des erzwungenen Lallens nur schwer verstanden wurden.
»Helden sterben.« Der weiße Schnurrbart von Walter bewegte sich kurz, als er die Worte nuschelte. »Merk dir das, mein Junge!«
Walter sondierte stoisch die Umgebung. Nicht die Art von geschärftem Blick, wie man es von einem erfahrenen Mann des Gesetzes erwartete, wenn er breitbeinig wie ein läufiger Rüde und aufrecht wie ein Brückenpfeiler mit in die Seite gestemmten Armen nach Gefahren Ausschau hielt und diese mit seiner bloßen Präsenz im Keim erstickte. Sondern eher ein vorsichtiger, zurückhaltender Blick, der abzuschätzen versuchte, ob man den Dingen ihren Lauf lasse oder überflüssigerweise eingreife, und dann auch nur mit maximaler Passivität aus einer sicheren Defensive heraus.
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