»Meine Bertha«, er tippte auf seine Pistole im Holster, »musste noch keinem Strolch ins Gesicht blicken. Sie fühlt sich sehr wohl an meiner Hüfte. Und bis zur Pensionierung soll das auch so bleiben.«
Er schaute zu Max. Ein Versuch, herauszufinden, wie dieser tickte. Walter hatte keine Lust auf Ärger oder einen umtriebigen Jungspund, der ihm den Feierabend vergeigen würde. Sein neuer Kollege machte keine Anstalten irgendetwas zu machen.
»Nicht sehr gesprächig, mh?« Walter nickte mit dem Kopf. »Kommt mir entgegen.«
Ein paar Meter beherrschten wieder das Rauschen des Funkradios und das Potpourri der städtischen Melodie den Geräuschpegel.
»Dieses verdammte, neumodische Ding«, fluchte Walter in Richtung Funkradio und versetzte dem Stahlchassis einen erneuten Hieb. Das Rauschen erstarb endgültig. Eine Delle zeugte vom plötzlichen Tod. »Na bitte, geht doch.«
Nun hörte man nur noch die Stadt und den sich verschluckenden Motortakt.
Ein Räuspern glitt durch den weißen Schnurrbart.
»Bertha war meine Frau. Sie ist tot. Gestorben an einer Infektion«, gab er im Stakkato zu Protokoll und ergänzte, »Lange her.« Wieder streichelte er über die Waffe an seiner Seite. Dass er auf hölzernen Bänken im Angesicht teurer Fresken dafür gebetet hatte, ihr folgen zu dürfen, verschwieg er.
Langsam wurde ihm die Stille allerdings unheimlich. Er klopfte sanft auf das Lenkrad und schien zu überlegen wie er das Eis brechen konnte.
»Verheiratet?«
Ein Kloß blieb in Max’ Kehle stecken. Für ein paar Sekunden hörte er auf zu atmen. Dass sich seine Hand in den Sitz krallte, registrierte er erst, als seine Fingerkuppen kribbelten.
»Ja«, antwortete er karg, in einer Art, die darum bat, nicht weiter zu bohren.
Walter verstand und glättete sich den Schnurrbart von der Mitte nach außen mit Daumen und Zeigefinger. »Warum Polizist?«, startete er einen neuen Versuch.
Max atmete schwer aus. Dieser alte Mann hatte ein Händchen für Fettnäpfchen, resignierte er.
»Mein Vater.«
Walter nickte. »Ehrenhaft.«
Die Männer setzten ihre Fahrt schweigend fort. Der eine, weil er keine Lust mehr auf eintönige Antworten hatte. Der andere, weil er keine Lust mehr hatte.
Eine Lichtzeichenanlage schaltete auf Rot. An der Haltelinie blieben sie als vorderstes Fahrzeug stehen. Die Fensterscheiben isolierten sie von der Umgebung.
Max holte seine Taschenuhr hervor und blinzelte gedankenverloren darauf. Er wusste zwar noch nicht wen, wie oder wann, aber er wusste, dass er wie eine Kobra zubeißen, vergiften und würgend verschlingen würde. Seine Wut wurde allmählich chronisch, wenn auch nach wie vor latent. Schock und Trauer überwogen noch, allerdings machten sie langsam Platz. Er stieß einen Schwall verbrauchter Luft aus und stierte durch die Seitenscheibe, wo ihm eine Mutter ins Auge stach, die mit einem okkupierten Kinderwagen ihrem anderen, autonomen Balg beim Kiesel vom Gehweg scharren zuschaute. Apathisch trommelte Max mit seinen Fingern einen polyrhythmischen Auftakt auf seinen Oberschenkeln und schielte zum Mutterglück.
Die Ampelphase zog sich. Nicht nur die Fußgängerüberwege querten hier die Kreuzung, auch die Bahnen des öffentlichen Personennahverkehrs schlängelten sich hier quietschend über die in den Asphalt gestanzten Schienen, während sie Vorfahrt genossen.
Walter unternahm einen letzten Anlauf. Polizeidirektor Gordon Godot hatte ihm aufgetragen, den Jungen Max Mayerz unter die Fittiche zu nehmen und zügig straßentauglich zu machen, obwohl Walter nicht gerade als Pädagoge punkten konnte.
»Wenn du Fragen hast, mein Junge, frag. Ansonsten schau zu und lerne.« Innerlich klopfte er sich für diesen guten Vorstoß auf die Schulter. Seines Erachtens hatte er damit für den Anfang genug Umsicht walten lassen.
»Ok«, erwiderte Max zweisilbig emotionslos, ohne seinen Blick vom Kinderwagen zu lösen.
Ein guter Konstabler muss kein guter Redner sein, dachte Walter bei sich. Es genüge, wenn er die richtigen Worte im richtigen Moment fände.
Rot erlosch und Grün blinkte. Der Polizeiwagen setzte sich in Bewegung und bog in die Kreuzung ein. Plötzlich raste eine Limousine quer über die Straße und erfasste den Polizeiwagen am Heck. Durch den Zusammenstoß geriet dieser ins Schlingern. Er rotierte mehrmals um die eigene Achse, sprang über die Bordsteinkante und krachte mit der Fahrerseite gegen einen Laternenpfahl. Das Verursacherfahrzeug rauschte derweil ungebremst mit einer total zerbeulten Front durch zwei große Schaufenster in einen Lebensmittelladen. Nach lautem Krawall kam es schließlich zum Stehen.
Als beide Fahrzeuge in den Ruhezustand übergegangen waren, verharrte die Szenerie. Auf der Straße tummelten sich Scherben und Karosserieteile wie mit einer Pfeffermühle verstreut. Menschen standen ringsum. Manche versuchten zu begreifen, andere wollten ihre voyeuristische Sensationslust sättigen.
Max hustete. Der Aufprall kam so überraschend, dass er sich an seinem eigenen Speichel verschluckt hatte. Leicht benommen versuchte er die Lage zu überblicken. Anscheinend war die Ölleitung gerissen. Die dampfenden Rauchschwaden aus dem völlig verbeulten Motorraum verrieten jedenfalls nichts Gutes. Glassplitter bedeckten ihn. Die Scheiben hatten dem Druck nicht standgehalten. Schnittwunden überzogen seine Hände. Er wollte gar nicht wissen, wie sein Gesicht aussah. Das Adrenalin übertünchte jegliches Schmerzempfinden. Seinen Kopf konnte er problemlos bewegen. Es fühlte sich sogar unglaublich frei an, als wäre ihm eine Last genommen worden. Ein Blick nach unten verriet ihm auch warum. Der Husarenhelm war von seinem Kopf gerutscht und lag im Fußraum. Neben Max keuchte Walter wie ein Greis im letzten Stadium.
»Verflucht«, knurrte er einem hungrigen Köter gleich. Eine Schimpfworttirade folgte und verwandelte sich in ein langes, gleichbleibendes Surren, das die Luft zum Vibrieren brachte.
Walter klopfte angepisst gegen das Blech der Fahrertür, was den Wortschwall unterbrach und auch Max wieder ins Diesseits zurückholte. So sehr Walter dieses Funkradio auch verabscheute, in diesem Moment hätte er es benötigt, um einen Notruf abzusetzen, denn zumindest er klemmte zwischen verformter Tür, Sitz und Lenkrad wie eine Sardine in der Büchse.
»Jetzt bist du an der Reihe, mein Junge. Ruf Verstärkung, sicher die Unfallstelle, kümmer dich um Verletzte und hol mich aus dieser verfluchten Kiste raus!«
Max besann sich, nickte, befreite sich von Glassplittern, die zum Glück nicht durch den dichtgewebten Uniformjackenrock gedrungen waren, und hievte sich umständlich aus der Schrottkiste, indem er durch das nun scheibenlose Fenster auf seiner Seite kletterte. Verwunderte Menschen standen um ihn herum. Wahrscheinlich fragten sie ihn auch nach seiner Konstitution, aber er vernahm lediglich dumpfe Töne. Er hatte sich zu schnell aus dem Wrack geschält. Sein Kreislauf insistierte. Trotzdem sah er die Limousine im Lebensmittelladen gegenüber deutlich. Wackelig machte er sich auf den Weg, den fürsorglichen Aufforderungen der Umstehenden zum Trotz. Nach ein paar Schritten fiel er auf den Boden. Mit zitternden Armen hielt er sich auf allen Vieren, den Blick gen Laden gerichtet.
Max erkannte, wie sich ein Mann auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig der Limousine näherte. Dieser Mann verhielt sich wie ein Fremdkörper. Während alle anderen Personen wirr umherliefen oder einfach nur starr an Ort und Stelle verweilten, marschierte dieser Herr schnurstracks und ohne Interesse für sein Umfeld auf das Trümmerfeld im Erdgeschoss zu. Ein hagerer, gut gekleideter Herr, in dessen Hand ein Messer herumwirbelte als wäre es ein Spielzeug.
Der einsetzende Regen spülte das Blut aus Max’ Gesicht und hinterließ ein Narbenfeld voller kleiner Glassplitter.
Walter konnte sich kaum bewegen. Das zerknirschte Auto machte es ihm unmöglich, sich eigenständig aus der misslichen Lage zu befreien. Selbst seinen auf halb acht hängenden Husarenhelm konnte er sich nicht richten, weil sein linker Arm bündig verkeilt war und sein rechter Arm zwischen Lenkrad und Bein irgendwie taub. Er glaubte, dass die Taubheit aus einem Bruch herrührte. Lediglich seinen Kopf konnte er leicht drehen, um das Schauspiel zu verfolgen.
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