»So kann es doch nicht weitergehen. Was, wenn du nicht mehr nach Hause kommst?« Sie musste innehalten. Obwohl sie sich oft mit dieser Frage befasste, hatte sie es bisher noch nie ausgesprochen. Die Hormone hatten sie fest im Griff.
Max bemerkte ihr Zurückweichen und fasste ihre von seinem Blut rotgefärbte Hand. Dabei drehte er sich zu ihr.
»Ich könnte zurück in die Fabrik«, überlegte Lena.
»Und unterm Webstuhl entbinden?«, warf Max zynisch ein. »Da würde der Zwerg wenigstens weich landen.«
Lena tupfte die Platzwunde trocken. Sie wich dem eindringlichen Blick ihres Mannes aus.
»Fäden durch Ösen ziehen ist nicht deine Bestimmung, Lena«, sagte Max.
»Sondern einsam und verarmt sterben, bevor unser Kind zur Welt kommt?«
»Einsam?«
»Weil du vor mir stirbst. Bei irgendeiner krummen Sache.« Lena atmete schwer aus.
Das Wasser im Bottich war bereits blutrot. Ein behelfsmäßiger Verband mit einem Tuch musste genügen, bis die Wunde von selbst zuwuchs. Bis dahin musste man hoffen, dass es sich nicht infizierte.
Lena nahm Max’ Hand und legte diese auf ihren kugelrunden Bauch. »Wir brauchen dich!«
»Ich lass mir etwas einfallen. Ich will nicht, dass du diese krude Textilfabrik noch einmal von innen sehen musst«, antwortete Max nach längerer Stille.
Er wusste, was zu tun war. Als ungelernter Verbrecher, der Ordnung in sein Leben bringen möchte, der dunklen Seite den Rücken kehren wollte, sich für nichts zu schade war und dem ein geregelter Lohn mehr bedeutete als abgekartete Geschäfte unter der Ladentheke, gab es nur eine Anlaufstelle: die Polizeidirektion.
Entgegen der ausdrücklichen Eindringlichkeit ihres Ehemannes stattete Lena der feuerroten Backsteinstätte am nächsten Werktag einen unangekündigten Besuch ab. Es war eine eher kleine Textilfabrik im Vergleich zu den Kolossen, die gerade im neueren Industrieviertel gebaut wurden. Die Scheiben waren teils verkleistert und Unkraut eroberte das Gebäude ganz langsam vom Sockel her. Ein einzelner Schornstein blies pechschwarzen Rauch in die Luft. Der daran angeschlossene Generator versorgte die gesamte Fabrik. Er war schon von weitem zu hören und versetzte zusammen mit den laufenden Webmaschinen das nähere Umfeld in leichte Vibration.
Unterleibschmerzen bremsten Lenas Gang. Anscheinend hatte nicht nur Max Einwände gegen ihr Vorhaben. Ihr Gewissen verbündete sich gerade mit der umsichtretenden Frucht in ihrem Leib.
Trotz der warnenden Fassade, an der der Firmenname Teufels Zwirn genagelt war, trotzte sie der Vorahnung, die sie unablässig quälte. Sie wollte es sich und vor allem Max beweisen, der die Rolle des Beschützers manchmal zu verbissen vertrat.
Ich bin stark, hämmerte sie sich pausenlos ein. Ihre festen Schritte täuschten kaum über die Unsicherheit hinweg. Zum einen krankte sie am eingeschränkten Bewegungsradius, zum anderen wusste sie, dass Max Recht hatte und des Teufels Spinnerei nicht der richtige Platz für sie war. Doch sie brauchten das Geld.
Am Gebäude musste sie sich erst einmal anlehnen. Sie hatte ihrem Körper einfach zu viel zugemutet. Sie würde keine volle Stunde am Webstuhl aushalten. Was hatte sie sich nur dabei gedacht?
Lena schaute verdrossen zum Nebengebäude. Dieser mickrige Verschlag diente dem Oberaufseher Ludwig Lustig als Büro. Gleichzeitig beherbergte diese unscheinbare Hütte die Geschäftsbücher, den Tresor und gerüchteweise ein 200 Meter langes Goldgarn, das dieser Ludwig von seiner Reise ans andere Ende der Welt mitgebracht hatte. Man munkelte, dass er dieses faustgroß aufgewickelte Goldgarnpaket einem wohlhabenden Kaiser entwendet haben soll. Lena wusste nicht, ob das der Wahrheit entsprach. Was sie aber wusste, war, dass jeder Meter dieses Goldgarns für eine kleine Familie für ein Jahr reichen würde. Ein Jahr Miete. Ein Jahr Essen. Ein Jahr gut leben.
Wem würde schon auffallen, wenn statt der 200 nur noch 199 Meter Goldgarn übrig blieben? Sie schmunzelte. Oder sagen wir 195 Meter. Immerhin müsse sie ihrem Kind einen angenehmen Start ins Leben ermöglichen. Sollte Max kein Geld mehr auftreiben können, würde ihnen etwas mehr Spielraum helfen.
Auch wenn sie nur gesponnen hatte, der Gedanke ließ sie auf einmal nicht mehr los. Sie hatte von den anderen Frauen in der Fabrik gehört, dass der Oberaufseher Lustig zu viel Angst habe, auch nur einen Zentimeter des Garns irgendwo feilzubieten. Und um es dem Fabrikeigentümer Theodor Teufel zu verheimlichen, lagere Lustig das goldene Garn auch nicht im Tresor, sondern unter einer Holzbohle. Die Geschichte ging sogar soweit, dass eine der Frauen behauptete, die vermeintliche Bohle knarze beim Darübergehen.
Die Tür stand offen. Erst in diesem Moment bemerkte Lena, dass die Tür offen stand. Die Tür hatte nie offen gestanden, als sie noch hier gearbeitet hatte. Sie lehnte nun auch schon einige Minuten an der Mauer, ohne jemanden gesehen zu haben. Vielleicht wollte Ludwig Lustig ein wenig frische Luft in sein Büro bringen. Oder er war kurz austreten. Sie spielte weiter mit dem Gedanken, etwas von dem Garn zu nutzen, bevor dieser verschwenderisch verstaubte und niemandem etwas nützte.
Der Raum war stickig. Lena erschrak. Wie kam sie hierher? Hatten sich ihre Beine von selbst bewegt? Fahles Licht durchschnitt den Raum – das Büro des Oberaufsehers. Staubiger Nebel waberte von den Holzbohlen aufwärts. Außer ihr befand sich niemand in dieser Einraumhütte. Der Schreibtischstuhl war verwaist und auf dem Schreibtisch lag ein aufgeschlagenes Buch mit lauter Zahlen in Tabellen. Sie blickte auf den großen Tresor mit dem Drehschloss. Ansonsten war der Raum trostlos und trist. So wie das Gemüt des Oberaufsehers, nur, dass dieser Frauen gegenüber noch dazu unnachgiebig und streng sein konnte. Im stillen Kämmerlein solle er sogar körperliche Züchtigung ausüben, tuschelte man durch die Blume hinter vorgehaltener Hand.
Lena stand in der Mitte des Raumes. Sie schaute nach unten auf den Holzboden. Eine dieser Bohlen versteckte ein paar sorgenfreie Jahre für sie, ihren Mann und das ungeborene Kind. Schon mit dem unbefugten Zutritt hatte sie sich strafbar gemacht. Nicht auszumalen, was geschehen würde, wenn man sie dabei erwischen würde, wie sie eine knarzende Holzbohle nach oben hebelte, einen Goldgarn hervorholte, diesen um fünf Meter kürzte, zurücklegte, die Bohle vorsichtig wieder in den Freiraum klemmte und sich das kleine Stück Garn unter das Kleid schob.
Ihr Puls trommelte durch die Halsschlagader und gegen die Schläfe. Ihre Sicht verschwamm und sie zitterte. Ihr Herz pochte so stark gegen ihren Brustkorb, dass sie kaum atmen konnte. Allein die Vorstellung dieser Straftat lähmte sie.
»Frau Mayerz!«
Lena zuckte zusammen und drehte sich zur Tür. Dort stand Oberaufseher Ludwig Lustig und grinste schelmisch. Ein kleiner, untersetzter Mann mit einem Rohrstock am Gürtel und schwieligen Händen.
»Was machen Sie in meinem Büro?« Seine Stimme wurde innerhalb eines Wimpernschlags schneidend. Er kippte seinen Kopf zur Seite und musterte sie. Halb zornig, halb erregt.
Lena bekam keinen Ton heraus. Sie war wie versteinert.
»Haben Sie mich vermisst? Wollten Sie mir einen Besuch abstatten? Oder brauch Ihr Gatte noch einen Auftrag? Der letzte lief ja nicht so gut für ihn. Hab von dem Zwischenfall gehört.« Lustig grinste ihren Bauch an. Es war ein diabolisches Grinsen. »Nicht von mir, oder?«
Es stimmte also. Lena hatte Gerüchte vernommen. Ludwig Lustig verging sich an den Frauen. Offenbar hatte er schon öfter einen Treffer gelandet. Aus der Fassung brachte ihn der Schwangerenbauch nicht. Im Gegenteil, er wirkte vorbereitet. Seine Körpersprache verriet, dass er Übung mit solchen Situationen hatte.
Lustig schaute zum Brieföffner auf dem Schreibtisch. Ein langer, spitzer Metallstab, der an der oberen Seite eine scharfe Schneide besaß. Metaphorisches Blut klebte an diesem Brieföffner. Getratscht wurde über viel Blut. Uterus- und Fötusblut, meinten die Frauen einhellig.
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